60 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR)
von Nina Althoff
Das 60jährige Jubiläum „eines der großen Dokumente der Weltgeschichte„, wie die ehemalige Menschenrechtshochkommissarin der Vereinten Nationen Mary Robinson die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) nannte, steht bevor. Die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN) am 10. Dezember 1948 in Paris verabschiedete AEMR stellt als erster universeller Menschenrechtskatalog den Auftakt und Grundstein des internationalen Menschenrechtsschutz dar.
Zuvor war der Schutz der Menschenrechte in erster Linie eine innere Angelegenheit der Nationalstaaten und so haben die ersten Menschenrechtsdokumente, zu denen die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 und die Menschen- und Bürgerrechtserklärung der Französischen Revolution von 1789 zählen, noch einen ausschließlich nationalen Bezug. Als Reaktion auf nationalsozialistischen Terror, den Holokaust und die Schrecken und verheerenden Folgen des Zweiten Weltkrieges verpflichtet die Charta der 1945 gegründeten Vereinten Nationen die Mitgliedstaaten dazu, die Achtung der Menschenrechte zu fördern. Der Menschenrechtsschutz wurde nicht mehr nur als nationale Angelegenheit, sondern als Aufgabe der neu geschaffenen Staatengemeinschaft verstanden und zu einem der Hauptziele der Vereinten Nationen erklärt. Innerhalb der unter dem Vorsitz von Eleanor Roosevelt tagenden UN-Menschenrechtskommission folgte dann die Ausarbeitung eines Katalogs der global zu sichernden Menschenrechte, die schließlich zwei Jahre später in der Verkündung der AEMR mit ihrem Bekenntnis zu den Menschenrechten als „die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden“ (Satz 1 Präambel AEMR) ihren feierlichen Abschluss fand.
Die AEMR formuliert die bereits in der Charta inkorporierte Idee der Menschenrechte als vorstaatliches Konzept mit der Anerkennung „der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen“ (Satz 1 Präambel) aus. Ihre besondere Bedeutung und Tragweite liegt vor allem in der Zusammenfassung und Fixierung von universell geltenden, also jedem Menschen allein aufgrund seiner Existenz als Mensch und um seiner Würde willen zukommenden Menschenrechten. „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“ (Artikel 1 Satz 1 AEMR). Dies gilt ohne Unterschied „etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer und sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand“ (Artikel 2 Satz 1 AEMR).
Die AEMR deklariert in 30 Artikeln sowohl bürgerliche und politische, als auch wirtschaft-liche, soziale und kulturelle Rechte, die einander ergänzen, sich wechselseitig bedingen und unteilbar sind. Dieser gesamt- und ganzheitliche Ansatz ist bemerkenswert und in seinem umfassenden Ansatz einmalig. Klassische Freiheitsrechte, wie die Meinungs- und Versammlungsfreiheit, die Religionsfreiheit und die Eigentumsgarantie sind ebenso enthalten wie so genannte WSK-Rechte, etwa das Recht auf soziale Sicherheit, auf Arbeit, das Recht auf Nahrung und Gesundheit und das Recht auf Bildung. Daneben werden Gleichheitsrechte und grundlegende Abwehr- und Schutzrechte, wie das Recht auf Leben, das Verbot von Sklaverei, von Folter, von willkürlicher Festnahme und Haft, sowie bestimmte Verfahrensgarantien, etwa das Recht auf rechtliches Gehör und auf ein faires Verfahren, die Unschuldsvermutung und der nulla poena sine lege-Grundsatz (keine Strafe ohne Gesetz) deklariert.
Die als Resolution verkündete AEMR erzeugte zunächst keine rechtliche Bindungswirkung. Vielmehr handelt es sich bei ihr wie bei allen UN-Resolutionen um eine Absichtserklärung ohne Rechtsverbindlichkeit. Ausweislich ihrer Präambel stellt die AEMR das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal dar. Die AEMR, die als Basisdokument der heute aus 192 Mitgliedstaaten bestehenden UN von neuen Mitgliedern automatisch anerkannt wird, wurde allerdings in späteren Menschenrechtsabkommen schrittweise fortgeschrieben, rechtlich konkretisiert und vertraglich fixiert. Die nachfolgende weitgehende Kodifikation der Menschenrechte in rechtlich verbindlichen internationalen und regionalen Menschenrechtskonventionen und deren Ratifikation durch eine Mehrzahl von Staaten haben dazu geführt, dass etliche in der AEMR enthaltene Menschenrechte heute als Ausdruck einer weit verbreiteten Rechtsüberzeugung gewohnheitsrechtlich anerkannt und damit zwingendes Völkergewohnheitsrecht sind.
Die AEMR bildet Ausgangs- und Bezugspunkt für zahlreiche Menschenrechtsabkommen, insbesondere die beiden zentralen völkerrechtlich verbindlichen UN-Konventionen aus dem Jahre 1966: der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Zivilpakt) mit 161 Vertragsstaaten und der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Sozialpakt) mit 158 Vertragsstaaten (beide 1976 in Kraft getreten), die zu den Kernstücken des normativen Menschenrechtsschutzes zählen. Gemeinsam mit der AEMR und den zwei Zusatzprotokollen des Zivilpakts bilden sie das Fundament des internationalen Menschenrechtsschutzes und werden auch als die internationale Menschenrechtscharta bezeichnet.
Darüber hinaus existieren zahlreiche weitere UN-Konventionen, die auf der Grundlage der AEMR den Schutz einzelner Menschenrechte speziell regeln und spezifische Standards einführen, z. B. die Antirassismuskonvention (1969 in Kraft getreten), die Frauenrechts-konvention (1981), die Folterkonvention (1987) oder die Kinderrechtskonvention (1990), die mit 193 Vertragsstaaten die am häufigsten ratifizierte Menschenrechtskonvention darstellt. Eines der wichtigsten auf die AEMR zurück zu führenden regionalen Menschenrechts-abkommen ist die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grund-freiheiten (EMRK) (1953), die den ersten rechtsverbindlichen Menschenrechtskatalog auf überstaatlicher Ebene darstellt. Die AEMR wurde außerdem zum Vorbild für verschiedene nationale Verfassungen, wie das deutsche Grundgesetz, und die Grundrechte-Charta der Europäischen Union, die bislang jedoch noch keine Rechtsverbindlichkeit besitzt.
Die AEMR ist nicht nur inhaltlicher Bezugspunkt für die Ausarbeitung rechtlich verbindlicher Menschenrechtsregelungen, sondern stellt insgesamt eine der wichtigsten Berufungs-grundlagen für Menschenrechtsforderungen von unterschiedlichsten Akteuren dar. Auf kein anderes Menschenrechtsdokument wurde und wird sich häufiger bezogen.
Zu den wesentlichen Fortentwicklungen der AEMR zählt neben der verbindlichen Kodifizierung der Menschenrechte auch die Schaffung von Durchsetzungsmechanismen und institutionellen Förder- und Schutzinstrumenten. So werden mittlerweile viele Abkommen durch Überwachungsmechanismen ergänzt. Die Einhaltung und Verwirklichung der Menschenrechtskonventionen der Vereinten Nationen werden etwa im Rahmen von Staatenberichtsverfahren überwacht und sind teilweise durch Zusatzprotokolle um die Möglichkeit einer Individual- und Staatenbeschwerde erweitert worden. Während diese Möglichkeit im Falle des Zivilpakts bereits seit langem existiert, hat der UN-Menschenrechtsrat am 18. Juni endlich ein entsprechendes Zusatzprotokoll zum Sozialpakt angenommen, so dass eine Verabschiedung durch die Generalversammlung Anfang nächsten Jahres endlich möglich erscheint. Auch im Rahmen der EMRK besteht ein viel genutztes Beschwerdeverfahren zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Als weiteres Durchsetzungsinstrument der Menschenrechte ist der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag von großer Bedeutung, der auf der Grundlage des Römischen Statuts von 1998 (2002 in Kraft getreten) zur strafrechtlichen Verfolgung und Ahndung von schwersten Menschenrechtsverletzungen in Form von Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord geschaffen wurde. Außerdem wurden Nationale Menschenrechtsinstitute, wie das Deutsche Institut für Menschenrechte in Berlin, eingerichtet.
Schließlich hat sich in den letzten Jahrzehnten eine breite Zivilbewegung zur Förderung der Menschenrechte, insbesondere in Form von Nichtregierungsorganisationen, entwickelt, die maßgeblich den heutigen Menschenrechtsschutzstandard erkämpft hat. So kämpfen WILPF Frauen weltweit für menschenrechtliche Themen und betreiben Lobbyarbeit zu Frauen- und Friedensfragen. Das WILPF Generalsekretariat in Genf nutzt die Akkreditierung der Liga als Nichtregierungsorganisation mit beratendem Status bei den Vereinten Nationen, um sich an internationalen Diskussionen zu Menschenrechtsfragen, insbesondere im Rahmen des Menschenrechtsrates, zu beteiligen.
Das Menschenrechtssystem setzt weltweit Maßstäbe und wird auf dem Basisdokument der AEMR kontinuierlich fortentwickelt. So ist etwa die erst kürzlich in Kraft getretene Be-hindertenkonvention oder die UN-Konvention zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen zu nennen, die aber erst von einer Mindestzahl von Staaten ratifiziert werden muss, bevor sie in Kraft tritt. Bisher haben 4 Staaten das Abkommen ratifiziert; die Ratifikation durch Deutschland steht kurz bevor. Außerdem kennen wir heute weitere Menschenrechte, wie das Recht auf eine saubere Umwelt, und es gibt Diskussionen über eine partielle Völkerrechtssubjektivität von Individuen und Unternehmen im Rahmen der globalen Weltwirtschaft.
Diese Entwicklungen, insbesondere die durch die AEMR angestoßene Verrechtlichung der Menschenrechte, stellen erhebliche Fortschritte des Menschenrechtschutzes dar. Gleich-zeitig gibt es aber schwerwiegende Rückschritte zu verzeichnen. So werden im Zuge des so genannten Kriegs gegen den Terror Freiheits- und Gleichheitsrechte verletzt, Verfahrens-garantien aufgehoben oder missachtet und es wird gegen das Folterverbot verstoßen. Zwar hat die Menschheit das rassistische Apartheidsystem und den Kolonialismus überwunden, es existieren aber nach wie vor Diktaturen, Kriege, Völkermord und ein weit verbreiteter Rassismus, der kein historisches Phänomen, sondern eine gegenwärtig wieder auflebende und ansteigende Bedrohung darstellt. Nach wie vor werden Menschen auf Grund ihrer Nationalität ausgeschlossen, wegen ihres Geschlechts unterdrückt und aus Gründen ihrer Religion verfolgt. Außerdem gibt es neue menschenrechtliche Herausforderungen wie den Terrorismus, den durch eine UN-Resolution kürzlich ausdrücklich zum Menschenrechts-thema erklärten Klimawandel mit den Folgen Armut, Hungersnöten und Klimaflüchtlingen oder etwa die noch ungelöste Frage einer menschenrechtlichen Verantwortung von global tätigen Wirtschaftsunternehmen.
Obwohl nun seit Jahrzehnten Anstrengungen unternommen werden, die Menschenrechte weltweit zu schützen und zu fördern, liegt ihre Verwirklichung noch in weiter Ferne. Weltweit werden Menschenrechte in gravierendster Weise verletzt. Dass sich am 10. Dezember, dem internationalen Tag der Menschenrechte, die Verabschiedung der AEMR zum 60 mal jährt, sollte nicht nur zum Anlass genommen werden, die Menschen-rechtssituation weltweit kritisch zu betrachten, auf aktuelle Menschenrechtsverletzungen hinzuweisen und Verbesserungen einzufordern, sondern auch genutzt werden, um allge-meine Kenntnisse und ein Verständnis über die Menschenrechte zu verbreiten. Obwohl die AEMR das bekannteste Menschenrechtsdokument ist und in über 360 Sprachen übersetzt wurde, kennt der Großteil der Bevölkerung keines ihrer Menschenrechte. Eine repräsentative Umfrage im Auftrag von Amnesty International hat ergeben, dass 42 % der Deutschen nicht in der Lage sind, ein einzelnes Menschenrecht zu benennen. Eines der zentralen menschen-rechtlichen Prinzipien ist das Empowerment, wonach Menschen sowohl berechtigt als auch ermächtigt werden sollen ihre Menschenrechte wahrzunehmen und durchzusetzen und hierfür sind Kenntnisse der Menschenrechte elementare Voraussetzung.
Mitgliedsfrauen der WILPF beteiligen sich weltweit mit verschiedensten Aktionen von Demonstrationen bis Postkartenkampagnen, um Einfluss auf Regierungen und die Vereinten Nationen auszuüben und ein Verständnis für Frauen- und Friedensfragen zu verbreiten. Das Genfer Generalsekretariat unterstützt mit seiner Beteiligung an internationalen Menschen-rechtsdiskussionen, vor allem beim UN-Menschenrechtsrat, zum einen Menschenrechts-kämpfe auf lokaler Ebene und trägt zum anderen zur Menschenrechtsbewegung weltweit bei. Alle WILPF Frauen sind aufgerufen sich weiterhin an diesem Prozess zu beteiligen.
Die Werte und Ziele der AEMR dürfen nicht nur Wunsch, sondern müssen nach und nach Wirklichkeit werden. Es bleibt noch ein langer Weg bis zur Verwirklichung der in der AEMR deklarierten Menschenrechte, auf dem mit zahlreichen Rückschlägen, Schwierigkeiten und Verzögerungen gerechnet werden muss. Dennoch: das in der AEMR enthaltene Versprechen als gemeinsame Vision und Leitbild der Staatengemeinschaft besteht fort. Es gilt den Schutz und die Förderung der Menschenrechte weltweit weiter voranzutreiben.