Brief zur Ankündigung Polens die Istanbul-Konvention zu verlassen
An die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen
An die Kommissarin für Gleichbehandlung, Helena Dalli
An den Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel
An den Präsident des Europäischen Parlaments, David Sassoli
An die deutsche Bundeskanzlerin, Angela Merkel
An die deutsche Ministerin für Frauen, Jugend, Familie und Sport, Franziska Giffey
An den Ministerpräsident von Portugal, António Costa
An den Ministerpräsident von Slowenien, Janez Janša
Die Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit/Women`s International League for Peace and Freedom ist zutiefst besorgt über die Ankündigung Polens durch Marlena Maląg, Ministerin für Familie, Arbeit und Sozialpolitik, das Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, die „Istanbul-Konvention”, zu kündigen. Das rechtlich bindene Dokument wurde 2011 in Istanbul unterzeichnet und von 34 Ländern des Europarates ratifiziert, darunter am 13. April 2015 von Polen.
In Solidarität und enger Zusammenarbeit mit polnischen Frauen und Frauenrechtsorganisationen, dazu gehören unsere Partner*innen in einem von der EU-Kommission mitgeförderten Projekt[1], beschäftigen wir uns seit vielen Jahren mit Angriffen gegen die Istanbul-Konvention in Polen als auch in vielen unserer Nachbar- und Partnerländern in Mittel- und Osteuropa. Als Mitglied der Europäischen Frauenlobby schließen wir uns deren Forderungen[2] an. Wir begrüßen ausdrücklich die Stellungnahme der Gleichstellungskommissarin Helena Dalli zu Antidiskriminierung und der Einführung einer europäischen Genderstrategie sowie die klare Positionierung der deutschen Familienministerin Franziska Giffey.
Wir sind erschreckt über den Wortlaut des Präsidenten der Republik Polen, Andrzej Duda. Er behauptet, die Konvention sei unnötig, weil das polnische Recht die Opfer vor Gewalt ausreichend schütze. Der stellvertretende Justizminister bezeichnete die Diskussion um Gewalt gegen Frauen kürzlich als „Gendergeschwätz“ – ein selten skandalöser Akt von Frauenfeindlichkeit! Der derzeitige Backlash gegen Frauenrechten ist für uns als Frauenfriedensorganisation auch ein Angriff auf den inneren Frieden in unserem Land, in Europa und weltweit.
Vor einigen Tagen kündigte in Polen die fundamentalistisch-religiöse Organisation, Institut für Rechtskultur Ordo Iuris, zusammen mit dem Christlich-Sozialen Kongress eine Bürgerinitiative zur Beendigung der Anti-Gewalt-Konvention als Teil der Initiative „Ja zur Familie, nicht zum Geschlecht“ an. Aus feministischer Sicht ist dieses Ansinnen absurd, denn Familienpolitik kann niemals Frauen- und Geschlechterpolitik ersetzen.
Bereits davor gab es Versuche von MRPiPS, das Gesetz zur Bekämpfung häuslicher Gewalt so zu ändern, dass es den in der Konvention verankerten Standards widerspricht. In der aktuellen politischen Situation in Polen wird der Schutz und die Sicherheit von Gewalt betroffener Frauen und ihrer Kinder weiter demontiert. Statistiken zeigen, dass in allen Ländern der Europäischen Union 62 Millionen Frauen über 15 Jahre physische und/oder sexuelle Gewalt erlebt haben. Gewalt beeinträchtigt die Gesundheit von Frauen, ihrer Kinder und Familienmitglieder. Staatliche Vorsorge ist dringend erforderlich. Allein in Polen verlieren jedes Jahr zwischen 400 und 500 Frauen durch häusliche Gewalt ihr Leben. Diese Zahl umfasst Opfer von Mord, Schlägen mit tödlichen Folgen, angeblichem Totschlag und Selbstmord. Darüber hinaus verbüßen etwa 200 Frauen Gefängnisstrafen für die Ermordung des Vergewaltigers, auch wenn sie in Notwehr gehandelt haben, weil sie keinen angemessenen Schutz erhalten haben.
In allen europäischen Ländern – auch in Deutschland – fehlen ausreichende Schutzeinrichtungen für von Gewalt bedrohten Frauen. Insbesondere für Migrantinnen und Geflüchtete ist die Situation katastrophal. Als Ergebnis des Corona-Lockdowns hat, statistisch belegt, häusliche Gewalt drastisch zugenommen – ohne, dass Schutzkapazitäten ausgeweitet wurden. Die sozialen und wirtschaftlichen Kosten von Gewalt gegen Frauen und der Missachtung des Problems durch den Staat sind ebenfalls enorm.
IFFF/WILPF Deutschland fordert daher:
- Es ist höchste Zeit, den Bürger*innen der Europäischen Union das Recht auf ein gewaltfreies Leben zu garantieren!
- Deutschland muss sich im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft aktiver für die Verhütung von Gewalt und einen wirksameren Schutz von Betroffenen einsetzen. Es ist wichtig, dass dies auch von Portugal und Slowenien fortgesetzt wird.
- Die Europäische Union muss den Stillstand bei der Ratifizierung der Anti-Gewalt-Konvention überwinden. Das Schweigen der EU zu Gewaltprävention schafft Raum für fundamentalistische Organisationen in den Mitgliedstaaten, für die die Annahme der Konvention auf EU-Ebene eine wichtige Blockade beim Vorantreiben ihrer Agenda darstellt.
- Die EU soll die Einführung von Mechanismen zur periodischen Überwachung der Umsetzung der Richtlinie 2012/29/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 zur Festlegung von Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz der Opfer von Straftaten durch die Mitgliedstaaten beschleunigen. Dazu bedarf es einer umfassenden EU-Strategie zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen sowie der Verabschiedung rechtsverbindlicher legislativer Lösungen, die es ermöglichen, die im Übereinkommen verankerten Standards EU-weit zu vereinheitlichen und umzusetzen.
- Die Länder müssen die entsprechenden finanziellen und personellen Mittel bereitstellen, um der Istanbul-Konvention zur Umsetzung zu verhelfen.
- Häusliche Gewalt einzudämmen muss als Generationenaufgabe betrachtet werden. Bildungsangebote, Aufklärung, gewaltfreie Kommunikation und Konfliktlösungsmethoden sowie intersektionelle Angebote müssen ausgeweitet werden.
Mit freundlichen Grüßen,
die deutsche Sektion der Women’s International League for Peace and Freedom (IFFF/WILPF)
[1]www.womenvotepeace.com
[2]https://womenlobby.org/EWL-rejects-attempt-to-withdraw-Poland-from-Istanbul-Convention?lang=en