20. August 2020

Ein Zusammenbruch des modernen libanesischen Staatsgebildes: Ein Interview mit Shirine Juri, Vorsitzende von WILPF Libanon und Koordinatorin der MENA-Region

Der Original-Artikel erschien in englischer Sprache auf Forbes. Artikel lesen.

“Wir sind total am Boden zerstört – überall herrscht so ein großer Schmerz. Wir fühlen uns fast wie in einem falschen Film“, sagt die Friedensaktivistin Shirine Jurdi am 4. August, dem Tag nach der Explosion am Hafen von Beirut. Der Knall im Ohr hat ihre 15 Jahre alte Nichte so traumatisiert, dass sie vor Schreck auf die Straße rannte und nicht mehr sprechen konnte.

Fast 200 Tote, 5.000 Verletzte, eine unbekannte Zahl Vermisster, 300.000 Heimat-und Obdachlose und Beiruts Institutionen, Restaurants und Krankenhäuser sind teilweise oder ganz zerstört. Das Ausmaß der Zerstörung wird auf 5 bis 15 Milliarden Dollar geschätzt – eine Katastrophe für ein bereits zusammenbrechendes Staatsgebilde. Das Gesundheitsministerium hat freie medizinische Versorgung und Krankenhausaufenthalt angeboten.

Shirine Jurdi, WILPF Libanon

Der Ministerrat, der Sicherheitssektor und Justizangehörige waren die letzten sechs Jahre auf dem Laufenden über die am Hafen gelagerten Chemikalien. Sie haben aber keine Vorsorgemaßnahmen ergriffen zur Vermeidung einer Katastrophe in der dicht besiedelten Hauptstadt mit einer Bevölkerung weit über eine Million Einwohnern. Die 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat enthielten 43,7 Prozent Nitrogen. Das verstößt eindeutig und klar gegen internationales Recht, das nur 11 Prozent erlaubt. Wenn man annehmen kann, dass die Regierung nur irgendwie eine Ahnung über die Gefährlichkeit des Produkts gehabt hatte, warum hat sie dann nichts unternommen? Wurde die Explosion also durch Missmanagement oder durch eine Attacke von außen ausgelöst?

“Die Katastrophenschützer waren die ersten Opfer. Warum haben die Autoritäten nicht Anwohner evakuiert, den Verkehr in beiden Richtungen an der Autobahn in der Nähe des Hafens gestoppt?” Jurdi sagt, dass man so Leben hätte retten können – wie das des kleinen 5 Jahre alten Alexanders, der einfach zuhause spielte, das von Sahar Habib die beim Katastrophenschutz arbeitete, oder das der Menschen, die in ihren Autos, Häusern oder an ihren Arbeitsplätzen starben. Angriff von außen oder interne Nachlässigkeit – Jurdi verlangt Aufklärung und Rechenschaft.

Man wird hellhörig, wenn die Menschenrechtsaktivistin Muna Luqman am 6. August den UNO-Sicherheitsrat auffordert, dringend Maßnahmen wegen des Safer Oil Tanker in Yemen zu ergreifen. Sie warnte vor einem drohenden Desaster im Roten Meer, das sogar weitaus schlimmer sein könnte als das was im Hafen von Beirut passiert ist und fast viermal so schlimm wie die Katastrophe des Öltankers von Exxon Valdez Alaska.

“Wir müssen die „Schutzverantwortung“/Responsibility to Protect/R2P aktivieren, eine Norm, die von der UNO 2005 verabschiedet wurde und den Auftrag formuliert, dass die Souveränität eines Staates kein Privileg ist, sondern Verantwortung für seine Bürger zur Pflicht macht.” Jurdi erklärt, dass, wenn ein Staat nicht willens oder in der Lage ist, diese Verantwortung wahrzunehmen, die Internationale Gemeinschaft aufgerufen ist, alle zur Verfügung stehenden diplomatischen, humanitären oder anderen Art Mittel zu nutzen, um Menschen zu schützen. „Wenn wir auf die Details im Libanon schauen, sehen wir klar, dass es sich hier um Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelt und somit R2P greifen müsste.“

Jurdi, die ehrenamtlich für die Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit/ Women’s International League for Peace and Freedom (WILPF) im Libanon und im internationalen Vorstand als Regionale Vertreterin für Nahost und Nordafrika arbeitet, ist Teamleiterin für die Kampagne Stop Killer Robots im Libanon, Mitarbeiterin im Sekretariat MENAPPAC der Permanenten Friedensbewegung/ Permanent Peace Movement (PPM), Regionalvertreterin des Global Partnership for the Prevention of Armed Conflict GPPAC. Jurdi fordert die internationalen Gemeinschaft dringend auf, als Krisenmanagerin aufzutreten, um sich um Verletzte zu kümmern, zerstörte Krankenhäuser wieder aufzubauen, bei der Suche von Vermissten zu helfen, die alles verloren haben, sie mit Unterbringung, Essen und Grundbedürfnissen zu versorgen und vor allem eine transparente, unabhängige und umfassende Untersuchung einzuleiten.

Während Beiruter ihren Mitbürger*innen in Not helfen, Schutt wegräumen, Essen und Unterkunft zur Verfügung stellen und die Namen von Vermissten sammeln, während Präsident Michel Aoun schon die ersten Untersuchungsergebnisse verspricht, ist der Ministerrat zurückgetreten.

Libanons zusammenbrechender Staat vor der Explosionskatastrophe

“Jeden Tag ist etwas Anderes Priorität im Libanon,” sagt Jurdi: die 40-prozentige Arbeitslosenrate am Vorabend der Explosion ist inzwischen auf 65 % hochgeschnellt.

Sie hat ihre Universitätsabschlüsse an der Amerikanischen Universität (LAU) im Libanon und an der Tokyo University of Foreign Studies (TUFS) gemacht und an der Londoner Universität/SOAS geforscht. Jurdi‘s Friedensarbeit fußt auf dem Zusammenhang von Frieden, sozialer Kohäsion und Gleichberechtigung. Sie setzt auf Ganzheitlichkeit zwischen Theorie und Praxis, zwischen akademischer Analyse und Grassroots-Aktivismus, auf Partnerschaften mit zahlreichen nationalen und internationalen NROs, um die Ursachen von Konflikten anzugehen. Gleichberechtigung der Geschlechter und Zusammenarbeit sind für sie entscheidend auf dem Weg zum Frieden. Sie berät in einem Projekt UNODC das Ministerium, das zuständig ist für die Rückkehr Vertriebener und arbeitet über libanesische Kultur und Tradition an der Universität LAU. 2019 hat Jurdi den „International Young Women’s Peace and Human Rights Award“ von  Democracy Today Armenien erhalten, gewidmet ihrer “außergewöhnlichen Arbeit im Bereich Konfliktprävention und Schutz der Menschenrechte“.

Sie verurteilt den Zusammenbruch des Libanon als Fehlen einer staatlichen Ordnung, ohne Institutionen an der Basis auszubilden. Sie kritisiert den Teufelskreis von religiösen und politischen Körperschaften, die einen religiös-politischen Bekenntnisstaat ausgebildet hätten in einem religiös, kulturell und politisch sehr diversen Land. Es gibt keine einheitliche nationale Identität. So wird der Libanon von sechs muslimischen Gruppen (Shi’a, Sunni, Druze, Isma’ili, Alawite or Nusayri), und 12 Christlichen Sekten (Maronite Catholic, Greek Orthodox, Melkite Catholic, Armenian Orthodox, Syrian Catholic, Armenian Catholic, Syrian Orthodox, Roman Catholic, Chaldean, Assyrian, Copt, Protestant) regiert. Diese religiös –politische Allianz teilt unter sich parlamentarische Sitze, Regierung, öffentlichen Dienst und institutionelle Ämter proportional zu den religiösen Bevölkerungsanteilen auf. In Indien, Spanien, Schweiz oder Belgien scheint so ein System annähernd zu funtionieren.

Die “Oktoberrevolution” von 2019 – ausgelöst von neuen Steuern auf Gas, Tabak und von 6$ auf VoIP Dienste wie WhatsApp – brachten Hunderttausende auf die Straße mit dem Ruf nach Gerechtigkeit und der Forderung nach Machtverzicht korrupter Politiker. Fast 300 Tage lang stürzten die Proteste Libanon in eine schwere sozio-politische Krise. Als Premierminister Saad Hariri verzichtete, ersetzte ihn der Vizepräsident der Amerikanischen Universität von Beirut, Hassan Diab, und trat am Tag nach der Explosion zurück.

“Das ungerechte politisch-konfessionelle System führt Politiker dazu, sich die Ämter immer wieder untereinander aufzuteilen. Dabei berauben sie eine breite Mehrheit der Bevölkerung ihrer Rechte”. Während die Demokratie im Libanon eigentlich Raum für freie Äußerung von Missachtung zulässt, sagt Jurdi “vertritt jede Gruppierung nur die Interessen ihrer eigenen politischen und religiösen Führer. Das Überleben jeder Gruppe beruht auf einer Sozialstruktur, die aufgrund eines korrupten Systems nur von ihre eigene Klientel bedient.“

Zu Politikern mutierte Warlords haben das Sagen in ihrer jeweiligen Gruppe und der Staat dient ihnen als eine Art Tarnorganisation. In den letzten 30 Jahren unterstützten die internationale Gemeinschaft und die Weltbank den Libanon. Für den Wiederaufbau nach dem Bürgerkrieg verlangte sie keine Zahlungsnachweise oder rechtliche Belege für den Übergang. James Rickards vom beratenden Vorstand der CEFP erklärt wie im März 2020, dass sich der Libanon “ sich mit seiner Wirtschaft im Absturz befände. Mit nicht geleistete Rückzahlungen auf den Eurobond in Höhe von 1,2 Milliarden Dollar im Verzug, beliefen sich mit allen anderen noch ausstehenden Eurobond-Verpflichtungen ausstehende Zahlungen auf insgesamt eine Höhe von 2,7 Milliarden Dollar, die im April und Juni fällig waren.”

“Wir verloren Vertrauen in unsere Banken, weil sie ihren Mangel an flüssigem Geld nicht mit den Masse teilten.” Jurdi betont, dass die Banken alle Einlagen an die Zentralbank verliehen, die sie der libanesischen Regierung weiterreichten, die dann das Geld natürlich nicht zurückzahlen kann. Der Wechselkurs von 1.500 Lira zu 1 Dollar stieg auf 3.800 Lira bei den Banken und 10.000 Lira bei Wechselstellen oder am Schwarzmarkt.

Die Saat der Oktoberrevolution

“Wie können alte Kriegstreiber und Milizenführer jetzt Führungsrollen beanspruchen? Wer für Krieg steht, kann keinen Frieden herbeiführen, ” argumentiert Jurdi. Und sie erklärt, wie das nun zusammenbrechende, rein auf Korruption und Nepotismus aufgebaute Wirtschaftssystem Jobs verteilte, definierte wer vom Bildungssystem, vom Gesundheitswesen und Krankenhausaufenthalt profitieren konnte, wer Zugang zu Serviceleistungen und Hygienemaßnahmen hatte.

Das ganze Jahr 2019 über, vereinte das Motto für die Koexistenz, alayesh moshtarak Gemeinden über sozio-ökonomische und religiöse Trennlinien hinaus, sagt Jurdi – während Politiker das Land geteilt wissen wollen, um es besser kontrollieren zu können. Libanons politische Entscheidungen werden von Amerika, Iran und Saudi-Arabien unterstützt und haben ganz offensichtlich immer eine „Sekte“ unterstützt, nie das ganze Land. Der leichte touristische Aufschwung Libanons wurde durch regelmäßige israelische Angriffe über die Südgrenze hinaus ausgebremst.

“The Scheinheiligkeit, mit der man das alles leugnet und nicht analysiert, hat zum Zusammenbruch allen Gemeinwesens um uns herum geführt. Nichts läuft mehr, außer der Hilfsbereitschaft der Menschen. Wir helfen einander bei nur zwei Stunden Stromversorgung am Tag, weil Benzin „verschwindet“. Der Energieminister verkauft uns für dumm. Jurdi ärgert sich darüber, dass, während die Libanesen hungern, die Banken kein Bargeld mehr ausgeben und politische Parteien nach wie vor nur ihre eigene Klientel versorgen.

Die Revolutionär*innen arbeiten am Aufbau eines zivilen, säkularen politischen Systems, das auf Menschenrechte, Gewaltenteilung setzt mit besonderer Beachtung der richterlichen Gewalt. Sie kämpfen für Transparenz und, dass sich diejenigen, die das Land seit Ende des Bürgerkriegs regierten, Rechenschaft ablegen müssen. Sie setzen sich ein für ein System mit echter und wirkungsvoller Beteiligung der Menschen.

Übersetzung von Heidi Meinzolt