Europa im Krisenmodus
Schafft sich Europa gerade ab – oder wie können wir Europa wieder als Bereicherung für uns alle beleben?
Nach dem Ende des Kalten Krieges gab es nur ein kurzes Aufatmen, ein „window of opportunity“, wo man/frau an die Überwindung der Blockkonfrontation durch das Ende der Militärbündnisse glauben konnte. Dann ging es aber gleich los: mit den Kriegen am Balkan und vor allem dem „Krieg gegen den Terror“ mit der Allianz der Willigen und der Verteidigung Deutschlands am Hindukusch. Schließlich eine militarisierte Akkumulation, Aufrüstung, weitere Drohgebärden, Schüren von Ängsten. Und trotzdem 2012 den Friedensnobelpreis für die EU; große Reden – und war das nicht zynisch? Drei Tage drauf die Ankündigung, dass die Europäischen Rüstungsagentur als EU Initiative zur Arbeitsplatzbeschaffung gedacht ist: als erste gemeinsame Handlung genau derjenigen, die gerade strahlend den Preis von Oslo angenommen hatten (3 Männer: Schulz, van Rompuy, Juncker). Seitdem fast 40 EU Militäreinsätze mit weniger als 10% zivilem Personal, Assoziierungsabkommen und NATO-Osterweiterung bis an die russische Grenze.
Die Integrationsdynamik scheint endgültig versiegt und von einer erklärten Nachbarschaftspolitik sind wir weiter weg als je. Deutschland nu(ü)tzt Österreich als Vorposten für die Mauern und Zäune zur Abschottung der Flüchtlingsroute zum Balkan und ans Mittelmeer, das Grenzkontrollmanagement macht man „vertrauensvoll“ zusammen – jeweils im grenznahen Bereich, verlängert bzw. weitet die Grenzkontrollen aus, richtet verstärkt Sammelunterkünfte – ohne Zugang zu adäquater medizinischer Versorgung und Unterricht und einen Masterplan zur Abschiebung (alles Innenminister Seehofer in seiner 1. Woche im Amt). Frankreich mit Präsident Macron an der Spitze ist der Partner mit „großartigen“ neuen Ideen zur Stärkung Europas, die bei manchen Pro-EuropäerInnen durchaus Euphorie weckten, aber vor allem steht die gemeinsame europäische Verteidigung als „Leuchtturmprojekt“. Das heißt nun „verstärkte strategische Zusammenarbeit“. Victor Orban aus Ungarn wird von der CSU als Freund zu Parteitagen eingeladen. Die „Internationalität“ der populistischen Patrioten funktioniert – auch wenn sie dazu als erklärte Europagegner ausgerechnet das Europäische Parlament benutzen und dort positive Initiativen behindern und Ab-und Ausgrenzung fördern.
Brexit und unterschiedlich motivierte regionale Abspaltungstendenzen (von Katalonien bis ins Veneto), die Kooperation der Visegradstaaten zur Abschottungsgemeinschaft, eine verlängerte Austeritätspolitik gegenüber Griechenland und immer wieder Angst, Neokonservatismus, seit kurzem gespickt mit sog. traditionellen Werten, die die Frauen wieder aus dem politischen Geschäft verdrängen oder sie in militärische Funktionen einbinden will. Völker-und Menschenrechte erodieren und werden als „westliche Konzepte“ öffentlich gebrandmarkt, während andere die christlich-abendländische Wertegemeinschaft und Leitkultur predigen .
Der Neoliberalismus als „Enteignung sozialen Eigentums“, materialisiert alle menschlichen Beziehungen und schleift das immer noch bruchstückhafte Verständnis in unseren Gesellschaften von Gemeinwohl. Er verschärft die innere Spaltung der Gesellschaften. In seinem Gefolge werden Land und Ressourcen enteignet und gewinnbringend von Investoren vermarktet. Es gibt mehr Verlierer und mehr Angst. Die Versicherheitlichung und Militarisierung des Alltags in unseren Ländern, nicht nur an den Grenzen, werden zur Absicherung gebraucht. Sicherheit und Militär sind schon lange ein Paar z.B. im Gewand zivil-militärischer Zusammenarbeit in allen Konfliktregionen. Nun tritt das Paar auf im aufgehübschten Gewand der neuen (deutschen) Verantwortung (bereits seit 2016 unisono auf der SIKO von Frau von der Leyen, Gauck und Steinmeier auf der MSK vorgetragen), in der neuen Rolle der Bündnisverpflichtung als „Gegengewichts“ zu (Trump‘s) Amerika. Die schmutzigen Deals finden an den EU-Außengrenzen (Türkei, Libyen und sogar ganz Nordafrika) statt. Die NATO-Truppen in Polen und den baltischen Staaten werden deutlich verstärkt und kalte Kriegsrethorik („Eiszeit“ lt. Gabriele Krone-Schmalz) ausgepackt. Mittel aus Entwicklungsetats werden ganz offiziell nun der Sicherheit (und das noch als Präventionsmaßnahme!) zugeschrieben. Mit der neuen EU-Strategie der verstärkten Zusammenarbeit/ PESCO („die schlafende Schönheit des Vertrags von Lissabon“ lt. Juncker) wollen die Europäer früher, entschiedener, substantieller agieren- und das mit Hilfe der NATO. Ist das das Ende der „behüteten Außenpolitik“ wie der Spiegel titelte und/oder das Ende der „Zivilmacht Europa“?
Zwei parallele Prozesse standen für diese Entwicklung in Deutschland Pate: das sog. Peace Lab (unter Federführung des AA) und das Weißbuch (BMVG). Humanitäre Hilfe und Sicherheitsdiskurs – von Architektur kann man ja schon nicht mehr sprechen – dominieren die Außen- wie die Innenpolitik des letzten Jahres. Der aktuelle Koalitionsvertrag bildet das ab. Der Rüstungsexport steigt exponentiell an trotz aller gegenläufigen Bekundungen, heizt Kriege an und opfert die Zivilgesellschaft in den Konflikt-und Kriegsregionen als Kollateralschäden.
Noch vor 10 Jahren hatten wir zu einem ähnlichen Anlass getitelt: „ZIVILMACHT EUROPA“, aus der Überzeugung heraus, dass die Chance, die Europa hat, grenzüberschreitend und in globaler Verantwortung genutzt werden muss. Was haben wir vom Europa der Regionen geträumt, von Brückenbauen, kulturellem Austausch, „langsamer, tiefer, sanfter“[1]Reisen ohne Grenzkontrollen, Studien-und Ausbildungsmöglichkeiten ohne Grenzen! Da gibt es unendlich Ausbaupotential, Europäische Jahre, Begegnungs- und Kulturinitiativen, mediale Power für Offenheit und Transparenz. Allein die Erinnerung an die grauenhaften Kriege des letzten Jahrhunderts, dann der Mauerfall – doch nicht, um wieder gegeneinander aufzurüsten und voneinander abzuschotten!
Also deswegen scheint es mir so wichtig, nicht die Angst (vor eventuellem Verlust an Heimat und Gewohntem) als Ratgeber zu verinnerlichen, sondern jenseits von Grenzen neugierig aufeinander zugehen, moralisch, sprachlich und politisch, abrüsten zugunsten des Gemeinwohls, der individuellen und sozialen Rechte und der Gleichberechtigung. Nicht im eurozentristischen Sinn, nicht als Triumph des westlichen Konsummodell, sondern in einem globalen Verständnis und der Sorge. Wie klar wäre es doch, endlich zur Kenntnis zu nehmen, dass Klimagerechtigkeit beim individuellen Verhalten anfängt, aber weiter geht – auch über eine begründete Kapitalismuskritik hinaus. Sie ist schlicht eine Gerechtigkeits- und somit Überlebensfrage – ganz im Sinne der nachhaltigen Entwicklungsziele. Aber dann müssen auch in der Politik die Weichen dazu anders und überzeugter gestellt werden. Enthusiasmus und Inspiration, könnte auch für Medien interessant sein, statt der üblichen Krisenberichterstattung. Das gilt für die Ernährungssouveränität, die Bildung für eine Kultur des Friedens und des Miteinanders, den Schutz vor Gewalt und Krieg, einer feministischen Ökonomie die auch die Gemeinschaftsarbeit/Care einbezieht. Sie reicht an die Wurzeln des Übels und zieht von dort ihre Kraft zu Veränderungen. Lokal und Europäisch denken und global Handeln ist nicht nur ein Programm, das wir an gewählte Vertreterinnen delegieren können (im besten Sinn der demokratischen Verantwortung). Das müssen wir leben! Ihr da oben, müsst uns endlich hören: Wir wollen euren Krieg nicht!
von Heidi Meinzolt, Europakoordinatorin IFFF/WILPF
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[1]Alexander Langer in seinen 10 Punkten fürs Zusammenleben , Erstausgabe 1994