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Feministische Kritik am gängigen nationalen Sicherheitsverständnis und dessen Praxis

Diese Erklärung erläutert unser feministisches Verständnis von Sicherheit und warnt vor der vorherrschenden Sicherheitspolitik und -praxis.

WILPF setzt sich international für feministischen Frieden, welcher strukturelle und soziale Gleichberechtigung für alle Menschen, Demilitarisierung und gewaltfreie Konfliktlösung umfasst, ein. Dies beinhaltet auch eine notwendige Veränderung des Sicherheitsverständnisses von Regierungen und Institutionen.

Im Folgenden erklären wir daher die Kritik des gängigen Sicherheitsverständnisses und erläutern feministische Ansätze für eine Neuausrichtung klassischer Sicherheitsrichtlinien und -praktiken. 

Sicherheit ist sowohl ein Konzept als auch Praxis. 

Klassische Sicherheitsansätze drehen sich um Krieg, nationale Sicherheit, Bedrohungen und militärische Reaktionen als Verteidigungsmechanismus sowie um sogenannte Friedensmissionen. Die meisten Sicherheitspraktiken, die heute von nationalen Militärs, Polizist*innen, Grenzschutzbeamt*innen und dergleichen durchgeführt werden, bauen ihr Verständnis von Sicherheit auf Konzepten auf, die im Rahmen  der Weltpolitik der Bipolarität (d.h. Land A stellt eine Bedrohung für Land B dar) nach 1945 entwickelt wurden und haben sich seither nicht verändert. Die zentrale Sicherheitswahrnehmung scheint der Kausalität zu folgen: Je größer der nationale Verteidigungsapparat, desto umfassender ist die Sicherheit des Staates gewährleistet und damit auch der Frieden. Dies ist jedoch ein Trugschluss, da seit dem Ende des Kalten Krieges Konflikte und gewaltsame Eskalationen nicht abgenommen, sondern zugenommen haben und diese Taktik nachweislich nicht zu mehr Frieden geführt hat.

Kritische Sicherheitsansätze, wie sie beispielsweise in der Kopenhagener Schule zu finden sind, haben den Analyserahmen für das, was als Sicherheitsfrage gilt, erweitert. Eines der bekanntesten Konzepte aus dieser Schule, ist das Konzept der Versicherheitlichung (Securitization). Versicherheitlichung bedeutet die Identifizierung und Formulierung einer Bedrohung von der “Wir”-Gruppe. Die Verkündigung der Bedrohung(en) lässt keinen Raum für weitere (öffentliche) Diskussionen. Die Versicherheitlichung führt zu einer Konstruktion eines hegemonialen Projekts, das entweder die Transformation des Sicherheitsdiskurses beinhaltet oder innerhalb einer gegebenen Sicherheitsordnung stattfinden kann. Ob eine Angelegenheit eine Sicherheitsbedrohung darstellt oder nicht, ist dann auf hochrangige Sicherheitsakteur*innen beschränkt. Versicherheitlichung wirkt sich direkt auf den Prozess der Politikgestaltung aus und kann zur Entpolitisierung einer Debatte führen, welche sich direkt in den sicherheitspolitischen Ausführungen widerspiegelt. Anstatt auf zugrundeliegende politische, soziale oder rechtliche Fragen einzugehen, werden militärische, polizeiliche oder andere sicherheitspolitische Maßnahmen eingesetzt, wie im Beispiel des „Kriegs gegen den Terror“.

Feministisches Konzept von „Sicherheit“

Kritische feministische Ansätze stellen das klassische Sicherheitsverständnis durch folgende Punkte in Frage: 

  • Sie fordern die Infragestellung des impliziten Machtungleichgewichts zwischen denjenigen, die eine Bedrohungen definieren (oft nationale Regierungen) und denen, die als Bedrohung definiert werden. Dazu gehört eine kritische Auseinandersetzung mit der Definition einer Bedrohung: Wer hat die Macht eine Bedrohung der eigenen Sicherheit zu erklären, sie zu definieren und was sind die direkten und indirekten Auswirkungen dieser Definition? 
  • Sicherheitsnarrative müssen analysiert und dekonstruiert werden: wo beginnen und enden Geschichten über Feindbilder oder Ereignisse? Welche „Krisen“ beinhalten sie und wie bzw. gegen wen können diese Narrative „othering“ oder Entmenschlichung hervorrufen.
  • Die Forderung einer intersektionellen Analyse der Auswirkungen sicherheitspolitischer Politiken. Viele Bedürfnisse und Auswirkungen auf Menschengruppen, wie zum Beispiel Frauen*, marginalisierte ethnische oder religiöse Gruppierungen, Migrant*Innen oder staatenlose Menschen werden durch klassische Maßnahmen oft nicht wahrgenommen und übersehen.
  • Beachtung von intersektionaler Identität als Kriterium für politische Entscheidungsfindung und Politikgestaltung.
  • Ablehnung von Militarisierung und Gewalt als Mittel oder  Methode für Frieden. 
  • Die Neuausrichtung der Sicherheitspolitik weg von Sicherheit und hin zu Frieden – militarisierte Aktionen und Verteidigungsmechanismen sind im Rahmen einer Friedenspolitik schwer zu rechtfertigen. 

Bei einem feministischen Sicherheitsansatz geht es um alternative Machtkonzepte, kooperative Sicherheitsregelungen und Perspektiven, die über Staatszentrismus und Militarisierung hinausgehen und das Individuum sowie die Frage nach der Identität in den Mittelpunkt stellen. 

Mehrere Maßnahmen/Programme/Entscheidungen  der Vereinten Nationen, der EU und der OSZE folgen jedoch dem Gedanken, mehr Frauen* in die Debatte über Frauenfragen, Frieden und Sicherheit einzubeziehen. Aber die Aufnahme von Frauen in Entscheidungsprozesse und Streitkräfte oder die Ersetzung von Männern durch Frauen führt nicht automatisch zu einer „Befriedung“, Gewaltprävention oder Verbesserung von Sicherheits- oder Friedensprozessen. Die Einbeziehung von mehr Frauen in die Sicherheitsgleichung bedeutet nicht die Neugestaltung gegenwärtiger Sicherheitspraktiken, da diese von Vorstellungen über männlichen Protektionismus, hegemoniale und militarisierte Männlichkeiten durchdrungen sind. Feminist*innen fordern, die Wurzeln dieser Vorstellungen zu analysieren, anstatt das Feld nur zu „feminisieren“. Sie fordern eine strukturelle Veränderung politischer Praxis und geschlechtsspezifischer Normen. 

Um die oben kurz diskutierten theoretischen Ansätze der Versicherheitlichung zu veranschaulichen, betrachten wir drei große Institutionen, die sich mit internationalen Sicherheitsfragen befassen:

Sicherheitsansatz der OSZE 

Das Konzept der Sicherheitsstrategie der OSZE umfasst drei Dimensionen: Die politisch-militärische, die wirtschaftliche und die ökologische und menschliche Dimension. Obwohl die Organisation behauptet, dass diese drei dimensionsübergreifend funktionieren, hat die OSZE ihren Fokus in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren verstärkt auf die politisch-militärische Dimension gelegt.

Dies entspricht nicht ihrem Gründungsgedanken, denn ursprünglich war die OSZE nicht als militärisch-militarisierte Organisation konzipiert. Heute hat sie Auswirkungen auf Grenzmanagement, Rüstungskontrolle, Konfliktmanagement und Friedensstiftung, Polizeiarbeit und Terrorismusbekämpfung. Das folgende Beispiel aus dem Grenzkontrollprogramm der OSZE zeigt diesen  staatszentrierten Sicherheitsansatz  der Organisation : „Grenzen können sowohl offen als auch sicher sein: offen, um den grenzüberschreitenden Handel zu ermöglichen, und sicher, in dem Sinne, dass die nationalen Sicherheitsinteressen der Staaten geschützt werden“.

Frauen, Frieden und Sicherheit Agenda der Vereinten Nationen

Die Resolution 1325 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen stellt das Gründungsdokument der Agenda Frauen, Frieden und Sicherheit dar. Die zugrundeliegende Botschaft ist jedoch kein feministischer Sicherheitsansatz, sondern ein repräsentativer, der sich auf den besonderen Schutz von Frauen, die verstärkte Beteiligung von Frauen am Militärapparat und an Friedensprozessen sowie die Prävention von bewaffneten Konflikten konzentriert. Neben der präventiven Säule fordert die Agenda, Frauen sichtbar zu machen, anstatt staatszentrierte Sicherheitsansätze anzupassen. Daher ist diese Agenda lediglich als Ergänzung zum klassischen Sicherheitsansatz zu verstehen.

Sicherheitsansatz der Europäischen Union:

Die EU wurde ursprünglich als Wirtschaftsunion gegründet. Im Jahr 1999 integrierte sie ihre „Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ und verabschiedete 2003 ihre erste Sicherheitsstrategie, mit der sie sich nach dem 11. September, auf externe Bedrohungen und Sicherheitsfragen als Reaktion auf „neue internationale Sicherheitsbedrohungen“ zu konzentrieren begann. Nun fungiert die EU als Sicherheitsgemeinschaft und identifiziert gemeinsame Bedrohungen oder Unsicherheiten wie Terrorismus, Migration, Energie oder Klimawandel. Die EU ist ein aktiver Teilnehmer der globalen militarisierten Aktionen. Mehrere Truppen werden in Friedensmissionen eingesetzt und die Grenzkontrolle wird an eine Grenzkontroll- und Verteidigungsagentur (Frontex) ausgelagert. Darüber hinaus diskutiert die EU seit einigen Jahren über den Aufbau einer europäischen Armee. All dies berührt, wenn überhaupt, nur am Rande den Aspekt der in Europa ansässigen Verteidigungsindustrie. 

Zusammenfassung

Betrachtet man diese drei Institutionen als Beispiele für die vorherrschende Sicherheitsgeschichte, so ist es offensichtlich, dass Vesicherheitlichungsprozesse von größerer Bedeutung sind. Versicherheitlichungen können instrumentalisiert werden, um eine Erhöhung der Verteidigungsinfrastruktur und der Militärausgaben zu rechtfertigen und institutionelle Maßnahmen zu legitimieren, während die Bürger*innen sich bedroht und verängstigt fühlen. Feministische Analyse und eine Neuformulierung dieser Narrative und angeblicher Bedrohungen müssen dringend angewendet werden, um zu verhindern, dass Menschen sich weiter nach rechts bewegen. 

Von Madita Standke-Erdmann und Victoria Scheyer (Women’s International League for Peace and Freedom).

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Bei diesem Text handelt es sich um eine Übersetzung der englisch sprachigen Version. Hier finden Sie den Text im Original mit Quellenangaben.