4. September 2020

Jetzt ist die Zeit da, EUROPAs Kapazitäten zur Friedensbildung zu stärken!

Brief der Women’s International League for Peace and Freedom in Europa

an den Rat der Europäischen Union
an die politischen Gruppen im Europäischen Parlament
an die Präsidentin der Europäischen Kommission
an den Ministerrat der EU
an die deutsche Bundesregierung im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft

Die Covid-19 Pandemie nimmt wie eine Lupe die Prioritäten der Entscheidsträger*innen in unseren Gesellschaften in den Blick. Sie macht klar, dass unsere „Sicherheit“ davon abhängt, wie gut der Zugang zu Gesundheitsversorgung, gesunder Ernährung, Bildung, bezahlbarem Wohnraum und einem sicheren Grundeinkommen ist. Eine hohe Bedeutung bekam, dass sich Menschen umeinander kümmerten.  Waffen können nichts davon leisten! Die Pandemie hat Randgruppen am stärksten betroffen. Wir in der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit/IFFF (engl. WILPF), der ältesten weltweiten Frauenfriedensbewegung, haben seit langem dazu aufgerufen in „Menschliche Sicherheit” zu investieren,

anstatt weiterhin auf militärische Sicherheit zur Grenzsicherung zu setzen und damit hohe menschliche Verluste in Kauf zu nehmen. Die Pandemie zeigt eindeutig das Versagen nationaler Sicherheitskonzepte. Waffen haben uns nicht mehr Sicherheit gebracht und nützen auch nichts im Kampf gegen globale Erwärmung und die dramatischen Umweltfolgen für uns. Der „New Deal“ der Europäischen Union  ist eine Gelegenheit den politischen Willen mit konkreten Aktionen zu verbinden, um die EU in eine sichere, nachhaltige, gerechte und friedliche Union zu transformieren.

Wir begrüßen den ehrgeizigen Plan der EU, die Zukunft der EU, seiner Bürger*innen und Nachbar*innen „frei von Angst” zu gestalten. Um diese Vision in die Wirklichkeit zu transponieren, rufen wir alle EU-Institutionen, den Europarat, die Mitgliedsstaaten, die Nachbarländer und die Beitrittskandidat*innen auf:

  • Rüsten Sie ab und verringern Sie drastisch den militärischen Haushalt und den Verteidigungsetat. Verschieben Sie Investitionen aus dem Bereich Militär und nationaler Sicherheitsstrategien in nachhaltige Maßnahmen für die menschliche Sicherheit.  Waffen werden eingesetzt, um zu töten, abzuschrecken, zu verletzen und zu drohen. Steigen Sie deshalb aus dem Waffengeschäft aus und hören Sie endlich auf, Waffen an Akteure zu exportieren, die im dringenden Verdacht stehen, Menschenrechtsverletzungen einschließlich sexualisierter Gewalt zu begehen oder damit undemokratische Regime weltweit zu unterstützen.
  • Entwickeln Sie die Präventivkapazitäten der EU weiter und verdreifachen Sie dafür die Ausgaben. Letztlich kostet Prävention immer weniger – eingeschlossen menschliche Verluste, zerstörte Ökosysteme und vernichtete Volkswirtschaften – als die daran anschließende zivile Konfliktbearbeitung zur Lösung des Konflikts. Die Forschung zeigt, dass nur ein inklusiver Frieden nachhaltig ist: Frauen und marginalisierte Gruppen müssen deshalb auf allen Entscheidungsebenen sowie in der Umsetzung von Friedensverhandlungen und Abkommen voll eingebunden werden.
  • Stellen Sie sicher, dass der „New Deal“ ein „Green Deal“ wird. Tragen Sie dazu bei, dass der ökologische Fußabdruck so weit verringert wird, dass die Erde bewohnbar bleibt. Die Pandemie hat eine bemerkenswerte Fähigkeit und Willen der Menschen und Institutionen zur Anpassung und Veränderung gezeigt. Tragen Sie zu einer Verringerung des Konsum- und Wachstumsdrucks und der Abfallproduktion bei, ziehen Sie sich aus fossilen Energien und giftigen Produktionslinien zurück. Schaffen Sie Anreize für eine größere Wertschätzung der Fürsorgearbeit gegenüber Profitinteressen, um die negativen Effekte des Neoliberalismus zurückzudrängen.
  • Setzen Sie Regelungen zum Gender Budgeting und zur Überwindung des Gender Pay Gap als Beitrag zur Armutsreduktion und Vorbeugung weiblicher Armut um. Die Pandemie hat gezeigt, dass Armut tödlich sein kann. Die Spaltung zwischen Reichen und Armen muss verringert werden. Der gleichberechtigte Zugang zu sozialer Sicherheit ist ein besonderes „Sicherheitsthema“.
  • Sorgen Sie dafür, dass die Europäische Erklärung der Menschenrechte für alle Mitgliedsstaaten verbindlich ist. Üben Sie politischen und gesetzgeberischen Druck auf alle Mitgliedsstaaten aus, die die Rechte von Frauen und LGBTIQ+-Gruppen einschränken, insbesondere ihre sexuellen und reproduktiven Rechte. Vermitteln Sie gegenüber Regierungen, die versuchen in Pandemiezeiten diese Rechte auszuhebeln. Sie dürfen damit keinen Erfolg haben.
  • Halten Sie an der Flüchtlingskonvention von 1951 und am Asylrecht fest. Sorgen Sie für sichere Fluchtwege in die EU und entsprechende gesetzlich geregelte Aufnahme-, Arbeits- und Integrationsmöglichkeiten für Geflüchtete und Migrant*innen. Lösen Sie die unmenschlichen Flüchtlingslager in Griechenland und entlang der Balkanroute auf und stoppen sie die Gewalt gegen Migrant*innen entlang der Außengrenzen sowie im Inneren. Setzen Sie die Ressourcen für die militärische Abschiebung durch Frontex in andere Maßnahmen wie sichere, menschenwürdige und geschlechtergerechte Unterkünfte in ganz Europa um, die auch die Bedürfnisse von LSBTIQ-Geflüchteten mitberücksichtigen. Die Pandemie zeigt, dass Bedrohungen für die Sicherheit von Menschen global sind und militarisierte, nationale Grenzen keine Personen aufhalten können.
  • In der Pandemie wurden viele der offenen Grenzen, die die Freizügigkeitsregelungen der EU ausmachten, geschlossen. Jetzt muss daher an neuen vertrauensbildenden Maßnahmen und grenzüberschreitender Kooperation verstärkt gearbeitet werden. Es ist die Aufgabe supranationaler Institutionen, Offenheit und Zusammenarbeit zwischen Mitgliedern und Nachbarn sicher zu stellen. Zählen Sie dazu auf die aktive Mitarbeit einer engagierten Zivilgesellschaft mit gleichberechtigter Beteiligung von Frauenorganisationen wie unserer, die sich bereits lange für Frieden engagieren.
  • Stellen Sie ausreichend Fördermaßnahmen für zivilgesellschaftliches Engagement zur Verfügung. Die Pandemie hat gezeigt, dass der Einsatz vor Ort und lokales Wissen hervorragend für das Angebot von Dienstleistungen und die Weitergabe von Informationen eingesetzt wurden. Diese Gruppen sind entscheidend für die Ausbildung und Stärkung demokratischer, inklusiver, gerechter, friedlicher und nachhaltiger Gesellschaften. Dafür und um ihre Tätigkeiten fortzuführen brauchen sie Mittel, gerade in Zeiten einer wirtschaftlichen Rezession.

Mit großer Erwartung für eine lebenswerte Zukunft in Europa, in feministischer Solidarität

Heidi Meinzolt, Internationaler Vorstand von WILPF, Repräsentantin für die Region Europa (heidi.meinzolt@wilpf.org)

Lina Hjärtström, Internationaler Vorstand von WILPF, Stellvertretende Repräsentantin der Region Europa (lina.hjartstrom@wilpf.org)

Gezeichnet von den WILPF-Sektionen in Finnland, Deutschland, Schweden, Dänemark, Vereinigtes Königreich, Holland, Italien, Spanien und Partner*innen in Bosnien, Österreich, Kosovo und Serbien.