Nela Porobic Isakovics Rede auf der Münchener Friedenskonferenz 2018
Wer aus Bosnien und Herzegowina (BiH) kommt und über Frieden nachdenkt, – selbst wenn 20 Jahre seit dem Krieg vergangen sind – wird verstehen, was es bedeutet, einen Frieden zu schaffen, der mehr ist als die reine Abwesenheit von militärischer Gewalt. Viele Bosnier_innen tun dies sogar täglich.
Es gibt eine Art des offiziell erklärten Friedens, ein formaler Fortschritt gemessen an der Abwesenheit von Gewalt (das heißt, dass es keine Rückfälle zu militarisierter Gewalt gab); gemessen an der Anzahl von Fällen gelöster Eigentumsrückgabe (was heißt, wie viele gewaltsam Vertriebene ihren Besitz zurückbekommen haben und– und es ist zu beachten, dass ich über die Entschädigung des Besitzes spreche und nicht über die tatsächliche Rückkehr); gemessen an der Demilitarisierung, die stattfand und der Tatsache, dass die drei Kriegsparteien nun alle Teil der gleichen Armee sind, und außerdem gemessen an der Tatsache, dass BiH offiziell der EU beitreten möchte.

Nela Porobic Isakovic und Heidi Meinzolt (IFFF) diskutieren angeregt auf der Münchener Friedenskonferenz 2018
Dies sind nur ein paar formale Indikatoren des sogenannten Erfolgs unserer Friedensvereinbarung. Das ist das, was uns die politische Elite, lokal sowie international, erzählt, wenn sie darüber sprechen will, dass sie es geschafft hat, BiH von einem Konfliktland in ein Land zu verwandeln, in dem Frieden herrscht.
Ich denke, dass die Perspektive eines/ einer gewöhnlichen Bürger_in von BiH etwas anders ist. Ungefähr so: „Wir sind zurück in die 90er gereist und bewegen uns unverzüglich auf einen neuen Konflikt zu“. Es ist klar, dass mit der derzeitigen Machtkonstellation, der derzeitigen geopolitischen Situation, dem Mangel an Kriegswaffen, der die Armee weit von den Kapazitäten der jugoslawischen nationalen Armee entfernt, sich nur wenige die gleiche Art von Krieg und intensiver Gewalt vorstellen können, aber nichtsdestotrotz fragen sich mehr und mehr Menschen, ob sie wirklich in Frieden leben. Immer mehr junge Leute und Familien leben wieder einmal ohne Aussicht auf Fortschritt. Den Medienberichten zu Folge, verließen 2018 ungefähr 35 000 Menschen das Land.
Gemeinsam mit lokalen Aktivist_innen hat WILPF erhebliche Zeit verbracht mit der Analyse und dem Verständnis von sowohl der Friedensvereinbarung als auch dem anschließenden Nachkriegs-Aufschwung und den Wiederaufbauprozessen, und dies aus einem feministischen Blickwinkel. Wir haben deren Inhalt ebenso wie die Resultate daraus betrachtet. Und wir tun das weiterhin, einerseits um zu versuchen, die Veränderungen, wie sie in BiH stattfinden, zu beeinflussen, aber auch um die rote Flagge zu zeigen, dass es so an anderen Orten nicht nachgemacht werden sollte.
Ich möchte gerne anhand von drei Aspekten die Fehler des bosnischen Friedensprozesses aufzeigen: 1. Exklusion, 2. Abschottung und 3. Neoliberalismus. Diese drei Aspekte zeigen, dass die bosnische Erfahrung nicht isoliert ist. Ähnliche Ansätze können in anderen Teilen der Welt beobachtet werden. In diesem Moment in der Ukraine, in Syrien, in Palästina, im Irak…
Die Zeitspanne von mehr als 20 Jahren nach Ende des bosnischen Krieges liefert einige Beweise in Bezug auf die Konsequenzen des absoluten Ausschlusses der Nachhaltigkeit und der Qualität des Friedens. Qualität des Friedens bedeutet hier, die Fähigkeit dem Krieg zugrundeliegenden Strukturen anzugehen und außerdem ökonomische, politische und soziale Strukturen zu schaffen, die nachhaltigen und gerechten Frieden sichern. Viele Ergebnisse hat WILPF in feministischen Dialogen mit Syrer_innen und Ukrainer_innen geteilt.
EXKLUSION
Es ist für Sie wahrscheinlich nicht mehr besonders schockierend, dass der formale bosnische Friedensprozess komplett ohne zivilgesellschaftliche Stimmen, insbesondere Frauenstimmen und -erfahrungen stattfand. Die Stimmen, die Gehör fanden, waren die der militarisierten ethnonationalen politischen Elite. Das gleiche passiert aktuell auch in Syrien und der Ukraine. Die Idee des Friedens wird von denen getragen, die für den Krieg verantwortlich sind: Männern mit Waffen – und nicht von denen, für die der Frieden am wichtigsten ist.
Durch den Ausschluss der Zivilgesellschaft, insbesondere der Frauen, die während des Kriegs den Friedensprozess vorangetrieben haben, wurden ernsthafte Versäumnisse in unserem Friedensabkommen gemacht.
Es wurde kein Kriegsentschädigungs-Programm aufgestellt, ein Programm, das sowohl Material und als auch weitere Unterstützung für Opfer bereitstellen würde, um die umittelbaren Auswirkungen des Kriegs zu überstehen. Besonders Frauengruppen, aber auch andere, die die Basisversorgung der zivilen Opfer während des Kriegs sicherten, wären in der Lage gewesen, den „Friedensverhandelnden“ zu sagen, wie diese Menschen wieder zu Kräften kommen könnten. Innerhalb der Gruppe der zivilen Kriegsopfer haben Frauen als direkte Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt, aber auch als Familienmitglieder (Ehefrauen, Töchter, Schwestern, Mütter) besonders gelitten und sie leiden weiter, weil es noch immer kein System gibt, das die Kurzzeit- und Langzeit-Bedürfnisse der zivilen Kriegsopfer regelt. 20 Jahre später sind diese Gruppen in einer prekäreren Lage als je zuvor, weil nichts davon in das Friedensabkommen mit einbezogen wurde.
Außerdem bezieht sich das Friedensabkommen auf die Sicherung der sogenannten zivilen und politischen Rechte. Beispielsweise darauf, dass keine ethnische Gruppe innerhalb staatlicher Institutionen diskriminiert werden darf und das ist wichtig. Doch diese Rechte wurden gegenüber den sozialen und ökonomischen Rechten bevorzugt. Ökonomische und soziale Rechte spielen oft eine große Rolle bei der Entstehung eines Konflikts. Der Zugang zu ihnen ist daher essentiell für den Übergang in die Nachkriegssituation. Die Rechte auf Gesundheitswesen, Beschäftigung, Sozialhilfe, Wohnraum und Bildung sollten die Hauptsorge im Nachkriegskontext sein. Sie sind eine Vorbedingung für den Zugang zu Gerechtigkeit und Teilhabe und sie sind sehr geschlechtergerecht. Das Herunterspielen von ökonomischen und sozialen Rechten in unserem Friedensabkommen geschieht im Einklang mit der regelmäßigen Praxis der Friedensverhandlungen und liberalen Friedenssicherungs-maßnahmen, die politische Ordnung und Stabilisation über individuelle ökonomische Rechte und soziale Sicherheit stellen.
Für BiH bedeutet dies, während die Konstitution ethnische Gruppen schützt, dass die sozialen und ökonomischen Ungleichheiten größer als jemals zuvor sind.
Und diese Exklusion war leider nicht isoliert vom Friedensprozess selbst, sondern setzte neue Maßstäbe. Der ausschließende Ansatz, nur mit der ethnonationalen Elite zu verhandeln, wurde 20 und mehr Jahre weiter fortgeführt […]. Jede kritische Stimme, abseits von den Wahlen, wurde ignoriert oder zum Verstummen gebracht. Selbst mit der (Einführung der UN-Resolution, Anm. d. Ü_in) 1325 hat die Frauenteilhabe nicht merklich zugenommen.
ABSCHOTTUNG oder wenn Sie wollen „DIE SCHUBLADEN“
Auffällig ist, dass während der Frieden ausgehandelt wurde, und es scheint, heute noch so zu sein, es anscheinend so verstanden wurde, dass es keine Auswirkungen auf den Friedensprozess habe, egal ob und wie mit Ungleichheit (eingeschlossen Geschlechterungerechtigkeit) umgegangen werde. Alles was getan wurde, folgte der Logik, dass nichts miteinander verknüpft ist und alles einzeln angegangen werden kann. Unser Frieden und unsere Leben wurden in unterschiedliche Bereich eingeteilt und das hatte für die initiierten Prozesse problematische Folgen:
- Erstens, es wurde ein Friedensabkommen unterschrieben und beim Entwurf des Friedens in diesem Abkommen wurde nicht an Entschädigung für diejenigen gedacht, die unter den Folgen leiden, weil das später getan werden könnte. 20 Jahre später ist nichts passiert.
- Man setzte sich mit freien und fairen Wahlen auseinander, aber nicht mit der ethno-nationalen politischen Elite und den Diskursen, die zum Krieg führten. Nein, sie durften an den Wahlen teilnehmen und dann behaupten, dass es natürlich Teilhabe gäbe, weil wir sie in den freien und fairen Wahlen gewählt hatten, was das Friedensabkommen legitimierte.
- Als die Gespräche zu den Verfassungsänderungen scheiterten, kümmerte man sich um die Wirtschaft und vergaß die Verfassung, die die Macht der ethno-nationalen Elite festsetzte und die gleiche Wirtschaft zerstörte, die reformiert werden sollte.
- Es gab keine Auseinandersetzung mit Geschlechterungerechtigkeiten und Ungleichheit generell, weil diese vom freien Markt oder spendenbasierten Projekten geregelt werden sollten. Das beispielsweise ein Spendenland reproduktive Rechte der Frauen unterstützen kann, während es finanziell und politisch die Reformen des Gesundheitswesens stützt, durch die Kliniken für den Schutz der Frauengesundheit und Schwangerschaft geschlossen wurden, wurde nicht als Problem angesehen.
- Wenn die Anzahl der Frauen in der Politik erhöht werden soll, wird normalerweise der Prozentsatz an Frauen gezählt, aber die patriarchalen Strukturen und der ethnonationale Rahmen werden nicht beachtet, wenn wir erwarten, dass die gewählten Politikerinnen Veränderungen durchsetzen.
- Als sich der Arbeitsmarkt für Frauen öffnete, wurden die Einschränkungen und Umstände, unter denen sie auf dem Arbeitsmarkt zurechtkommen müssen, nicht bedacht.
- Ökonomische Ermächtigung von Frauen hieß die Einrichtung von Strickprojekten oder die Ausgabe von Kleinkrediten zum Aufbau kleiner Geschäfte, die angeblich auf dem freien Markt wettbewerbsfähig sein sollten. Es bedeutete nicht den unbeschränkten Zugang zu Ressourcen und zu Entscheidungsprozessen.
- Und so weiter und so weiter…

DIe Diskussionsteilnehmer_innen des Internationalen Forums
NEOLIBERALISMUS
Eine wichtige Erkenntnis der Untersuchung von WILPF ist, dass der Frieden entschieden durch das liberale Verständnis von Frieden und neoliberale Ansätze des Aufschwungs und Wiederaufbaus in der Nachkriegssituation geprägt wurde. Das bedeutet:
- Liberalisierung des Marktes wurde als „eine Möglichkeit das Land durch attraktive Investitionen zu stabilisieren“ angesehen und sogenannte freie Wahlen abzuhalten, ohne die Machtbeziehungen, die im Krieg geschaffen wurden, infrage zu stellen.
- Staatlicher Güter (und gesellschaftlicher Besitztümer) wurden privatisiert.
- Ausländischer Investoren und Eliten erhielten Privilegien in Sachen Ressourcenzugang und minimaler staatlicher Verwaltung. Der Verfassung geschuldet, gibt es in BiH heute einen enormen Verwaltungsapparat, aber nur eine geringe Unterstützung für Bewohner_innen.
Dies hat unglaublich negative Effekte für alle Bewohner_innen von BiH und sehr spezifische Konsequenzen für Frauen:
- ob es die zivilen Kriegsopfer sind, die noch immer keine Reparationszahlungen erhalten haben,
- ob es die Frauen sind, die sich um Kriegsgeschädigte kümmern, aber nicht in der Lage sind, eine vernünftige Gesundheitsversorgung zu leisten, weil die Investition in öffentliche Unterstützung nie ein Teil des Sanierungskonzepts des Landes war,
- ob es die gekündigten Arbeiter_innen sind, von denen ein Großteil weiblich war, deren Arbeitsplätze in Fabriken durch die Umstrukturierung der Wirtschaft nach dem Krieg geschlossen, privatisiert oder prekarisiert wurden.
Frieden durch das Prinzip des freien Marktes zu schaffen, bedeutete irgendwann, man vergessen hatte, dass BiH aus einem Krieg stammt. Hinsichtlich der Strategien und Aktionen der internationalen Gemeinschaft lässt sich nicht einmal mehr von schwacher Konfliktanalyse sprechen, sondern von einer kompletten Abwesenheit der Konfliktanalyse Das was wir heute in Bosnien haben, ist kein Frieden, der auf einem angemessenen Verständnis dessen basiert, was geschah und aufrecht erhalten wird durch Inklusion, soziale Gerechtigkeit und Gleichberechtigung für alle, der die spezifischen Nöte eines Großteils unserer vom Krieg verletzten Gesellschaft mit einbezieht, wobei die Frauen einen substantiellen Anteil daran haben. Was wir haben, ist die Abwesenheit von militarisierter Gewalt, eine Art Status Quo (was nicht heißen soll, dass wir keine Gewalt oder Militarisierung habe, beide sind allgegenwärtig).
Der Status Quo besteht aus dem Interesse der Warlords und der ethnonationalen politischen Elite, dem Glauben der internationalen Gemeinschaft, dass Austerität zu Fortschritt führt und Privatisierung die magische Medizin ist, die alles heilt und einem kompletten Realitätsverlust gegenüber der Tatsache, dass die Auswirkungen des Krieges in BiH 1995 nicht einfach verschwanden. Ein wichtiger Punkt, der all dies soweit kommen ließ, war der Wunsch der internationalen Finanzinstitute, Frieden und Demokratie im Sinn einer wirklichen, bedeutungsvollen Teilhabe, im Sinn von Einfluss und Beherrschung der Richtung, in die sich unsere Post-Konflikt-Gesellschaft bewegt auf den Kopf gestellt haben zu entweder:
- Kompletter Gleichgültigkeit (im Sinne von: „Wir haben keine Zeit für euch oder ihr seid keine legitimierten Stimmen, solange wir uns mit euren gewählten Politiker_innen auseinander setzen müssen und ihr sie in freien Wahlen gewählt habt“)
- Oder Umwandlung in eine Ware („Sehr schön, dass ihr euch in dieser Sache engagiert. Ihr seid hier willkommen, aber nur wenn ihr Ideen habt, die sich nicht von unseren abgrenzen.“)
Auch scheint nie einen anderen Plan gegeben zu haben, der die mögliche Entwicklung des Landes berücksichtigt als den des freien Marktes. Das Land hat unzählige Reformen durchlaufen oder angefangen und dann wieder ausgesetzt. Die neueste ist die Reformagenda mit großem R, die kategorisch den Nachkriegskontext von BiH ignoriert, die Genderkomponente gar nicht mitdenkt und einen schwindend geringen Raum für demokratische Dialoge zwischen der Regierung und den Einwohner_innen aufmacht. Die Reformagenda wird einen kritischen Einfluss auf die Zukunft sozialer Gerechtigkeit und Geschlechtergerechtigkeit in BiH haben. Zwei Faktoren, die absolut schädlich für nachhaltigen Frieden sind.
Zu der Autorin:
Nela Porobić Isaković ist eine feministische Aktivistin aus Bosnien und Herzegowina. Für WILPF arbeitet sie in dem Projekt „Women Organizing for Change in Syria and Bosnia“ und treibt den Austausch zwischen syrischen und bosnischen Frauen voran, der nachhaltigen Frieden und die Teilhabe von Frauen in Friedensprozessen sichern soll.
Übersetzung: Marieke Eilers & Irmgard Hofer (IFFF)