Reproduktive Rechte in Europa: Einen Schritt vor, zwei zurück?
Ein Workshop von Polis180 und Young WILPF Berlin:
Schwangerschaftsabbrüche sind in Deutschland noch immer rechtswidrig. Zwar werden sie nicht mehr strafrechtlich verfolgt, doch § 218 im StGB besagt: “Wer eine Schwangerschaft abbricht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft…”. Deutschland steht mit dieser rechtlichen Lage nicht alleine dar: In ganz Europa machen sich breite konservative Strömungen die Debatte um den Schwangerschaftsabbruch zu eigen. Sie sprechen Frauen* ihr Recht auf körperliche und sexuelle Selbstbestimmung ab und missbrauchen feministische Fragestellungen für ihre Zwecke.

Der Thementisch von Mia Schwanz (Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung)
Die Dynamiken hinter dem aktuellen Diskurs – der sich in Deutschland vor allem um die Abschaffung des Artikels 219a dreht, in Irland eine Volksabstimmung hervorrief und in Polen zur Zeit dramatische Züge annimmt – waren Thema eines vom Arbeitsbereich Gender und Internationale Politik des Grassroots-Thinktanks Polis180 und Young WILPF Berlin organisierten Workshops am 19. Juni in Berlin. Mit dem Ziel einen möglichst breiten Einblick in den Diskurs zu erhalten und Herausforderungen und Handlungsempfehlungen herauszuarbeiten, waren Expertinnen aus verschiedenen zivilgesellschaftlichen Bereichen vertreten. Mit dabei waren Urszula und Gabriela Bertin von Dziewuchy Dziewuchom Berlin, einem Ableger der polnischen Frauenrechtsgruppe, die Ärztin und Beraterin Christiane Hoffmann-Kuhnt von der Schwangerschaftsberatung BALANCE, Stephanie Mia Schwanz für das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung und die Journalistin Hanna Voß, die mit Dinah Riese das Thema bei der taz covert. An Thementischen gaben die Expertinnen Einblicke in ihre Arbeit und stellten sich den Fragen der interessierten Teilnehmenden.
Die Aktivistinnen von Dziewuchy Dziewuchom Berlin betonten besonders die gute Arbeit der Gruppe Tante Barbara. Aufgrund der konservativen Gesetzgebung in Polen, die Frauen nicht über Schwangerschaftsabbrüche entscheiden lässt, suchen polnische Mädchen und Frauen oft Hilfe in Berlin. Tante Barbara ist ein informelles Netzwerk, dass seit 2015 Polinnen bei der Abtreibung in Deutschland unterstützt. Die polnische Aktivistinnengruppe zeigte sich aufgrund der aktuellen Lage in Polen zutiefst verzweifelt. Aktuell setzen sich die polnische Regierungspartei PiS und konservativen Kräften der katholischen Kirche sogar dafür ein, in Zukunft Abtreibung selbst bei einer schweren Behinderung zu verbieten. Eine Entwicklung, gegen die in Warschau am “Schwarzen Freitag” im März Tausende demonstrierten.
Die Gruppe um Christiane Hoffmann-Kuhnt, die sich mit dem medizinischen Teil eines Schwangerschaftsabbruchs auseinandersetzte, stellte das Problem der medizinischen Ausbildung in den Fokus. Sowohl die Tatsache, dass Abtreibungen nicht Bestandteil des Medizinstudium sind, als auch die immer geringer werdende Anzahl an Ärzt*innen die dafür ausgebildet sind (vor allem im ländlichen Raum) stellen ein großes Problem für die sexuelle Selbstbestimmung der Frau* dar. Christiane Hoffmann-Kuhnt machte außerdem besonders auf die Thematik der Kostenübernahme von Verhütungsmitteln für Menschen mit geringem Einkommen aufmerksam. Ein Service der zwar in Berlin existiert, aber längst nicht flächendeckend in Deutschland gewährleistet ist und langfristig sexuelle und reproduktive Gesundheit sichert.
Stephanie Mia Schwanz gab den Teilnehmenden des Workshops einen Einblick in die Arbeit des Bündnisses für sexuelle Selbstbestimmung. Das breite Bündnis aus Beratungsstellen, verschiedenen feministischen und allgemeinpolitischen Gruppen, Verbänden, Gewerkschaften und Parteien sowie Einzelpersonen wurde 2012 gegründet und organisiert seither Proteste gegen den jährlich stattfindenden, bundesweiten “Marsch für das Leben“. Regelmäßig gibt es offene Bündnistreffen und auch bei der öffentlichen Anhörung zu § 219a im Bundestag, die am 27. Juni 2018 stattfand, war das Bündnis vertreten. Alles mit dem Ziel einer strukturellen Veränderung und der Abschaffung von §218 und § 219a.
Hanna Voß reflektierte die in Deutschland medial geführte Debatte um reproduktive Rechte und arbeitete mit ihrer Gruppe verschiedene Schwierigkeiten der Berichterstattung heraus. So wurde die oft verwendete Bildsprache kritisiert, die meistens schon wesentlich weiter entwickelte Föten abbildet. Als eine Handlungsmöglichkeit wurde die Vernetzung mit internationalen Medien aufgegriffen, mit dem Ziel von erfolgreichen geführten Debatten innerhalb anderer Länder zu lernen. Vorbild war das berühmte Stern-Cover „Wir haben abgetrieben“ aus dem Jahr 1971, dem eine Aktion einer französischen Zeitung vorausgegangen war. Selbstkritisch benannte Hanna Voß das Problem, dass sich Interviewpartner*innen meist innerhalb der eigenen Bubble bewegen und vertrat die Meinung, dass Journalist*innen sich dem entgegensetzen und auch Meinungen außerhalb abbilden sollten um den Diskurs realitätsgetreuer abzubilden.

Zurück ins Plenum
Nach dem Austausch im Plenum wurde Terry Reintke, Abgeordnete des Bündnis 90/Die Grünen im EU-Parlament der Gruppe per Skype zugeschaltet. Reintke ist unter anderem Mitglied des EU-Ausschusses “Rechte der Frau und die Gleichstellung der Geschlechter” und setzt sich aktiv für die Selbstbestimmungsrechte von Frauen* ein. Judith Langowski, Redakteurin des Tagesspiegel, leitete das Interview an und moderierte die anschließende Diskussion im Plenum. Im Gespräch mit der EU-Abgeordneten wurde nochmals deutlich, wie wichtig es ist sich für reproduktive Rechte einzusetzen, da sich die sogenannten Lebenschützer*innen europaweit sehr gut organisieren und eine ausgeprägte Lobbyarbeit betreiben. Erst recht wenn es zum Brexit kommt! Denn dann werden die Karten neu gemischt, da sich mit dem Austritt Großbritanniens die Mehrheitsverhältnisse ändern. Die britischen Politiker*innen gehören aktuell zu denen, die oft progressiv in diesem Kontext abstimmen.

Skypen mit Terry Reintke
Von Seiten eines Zusammenschlusses von Parlamentarier*innen der EU wird bereits die Vernetzung aktivistischer Gruppen gefördert. Zur Zeit finden diese Treffen meist in Brüssel statt, doch Reintke stellte in Aussicht, dass es bald auch in anderen Städten Europas dazu kommen wird. Dies ist definitiv eine Chance die von der Zivilgesellschaft genutzt werden sollte, um den konservativen Strömungen etwas entgegen zu stellen und sich als Frauen*, gegen Fremdbestimmung zu behaupten.

Das Projektteam v.l.n.r.: Marie Schwarz (Polis180), Mara Schmidt (Polis180), Marieke Eilers (YWILPF) & Nina Schackers (YWILPF)
von Marieke Eilers