30. März 2020

Überlegungen zu Notfall- und Langzeitalternativen – Pandemien sind nicht genderneutral!

„Die COVID-19-Krise trifft Frauen und Mädchen unverhältnismäßig stark, die durch unser patriarchalisches und neoliberales kapitalistisches System verwundbar gemacht werden: ein System, das nicht für die Menschen oder den Planeten arbeitet, und ganz sicher nicht für Frauen und Mädchen…“ (EWL)

„Stoppt die Pandemie namens Krieg und kämpft gegen die Krankheit, die unsere Welt zerstört. Frauen, Kinder, Behinderte und Vertriebene sind am meisten gefährdet, Opfer des Virus zu werden…“. UNSG Guterres März 2020

Ja, wir befinden uns in einem Ausnahmezustand, nicht nur wegen völlig eingeschränkter Mobilität und physischer Isolation von anderen, Freunden, Familie, Nachbarn und Kunden. Die einen können sich auf ein funktionierendes Gesundheitssystem verlassen, die anderen weniger, vor allem im Bereich der reproduktiven Gesundheit – wenn alles auf den Notfall ausgerichtet ist. Die soziale Grundsicherung und das Einkommen sind gefährdet (zu zahlende Mieten ohne Einkommen, Schließung von Lebensmittelbanken und sozialen Diensten für Arme, Obdachlose, ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen). Die Fälle häuslicher Gewalt nehmen zu, ohne dass es Möglichkeiten gibt, dem Täter zu entkommen. 

Frauen machen die Mehrheit der „systemrelevanten“ Arbeitsplätze aus: in Krankenhäusern, im Pflegebereich, in den Reinigungsdiensten. In Notsituationen, wie wir sie derzeit erleben, können wir sehen, dass die Pflegearbeit nicht nur für die unmittelbare Hilfe, sondern auch für das Gemeinschaftsleben und das Funktionieren unserer Gesellschaften und unseres Planeten existenziell ist. Auferlegte Sparmaßnahmen und Privatisierung haben uns an einen Punkt gebracht, an dem es an notwendiger Hilfe in der Krise fehlt. Das muss sich ändern – aber schon mal vielen Dank an all die guten Geister!

Die Waffen schweigen nicht, nicht im Yemen, nicht in Syrien , unsere Waffenfabriken produzieren weiter für zukünftige Kriege und der Run auf Schusswaffen für den privaten Gebrauch steigt dramatisch an – damit ist Krieg weiterhin in der Welt. Deshalb müssen wir den dramatischen Appell des UN-Generalsekretärs Guterres ernst nehmen und Ängste abbauen.

Viele Fragen: 

Was wird mit Notmaßnahmen, wenn die Demokratie in „Quarantäne“ gestellt wird, wie dies z.B. der ungarische Präsident Orban macht. Die Zivilgesellschaft braucht hier unheimlich viel mehr Mut und internationale Solidarität, unheilvolle Entwicklungen, die eine bereits laufende Entdemokratisierung fortführen jetzt anzuprangern? 

Was ist mit den anhaltenden Konflikten, den militärischen Angriffen, den Luftangriffen, den Pushback-Aktionen und der Kasernierung von Flüchtlingen? Es ist höchste Zeit, unsere Politiker*innen daran zu erinnern, dass dies nicht nur eine schreckliche Geldverschwendung ist – was wir, WILPFer*innen, seit mehr als 100 Jahren sagen – sondern, dass diese elementaren Rechtsverletzungen ein direkter Angriff auf Menschen und das Leben als solches ist. So prangern wir die Kriegsrethorik an, die wir von Macron und inzwischen auch auf der Straße hören. Unsere feministische und pazifistische Antwort ist klar, rüstet ab – im Kopf und in der Realwirtschaft – hört sofort auf Waffen zu produzieren für weitere Kriege und auch im Privaten. 

Was ist mit all den kleinen und größeren Friedensinitiativen, die sich auf Dialog, grenzüberschreitende Treffen, vertrauensbildende Maßnahmen, kreative Friedensmacherinnen in kurz- und langfristigen Projekten konzentrieren? Sind sie aufgrund der aufgezwungenen Isolation, der Schließung der nationalen Grenzen, der Umverteilung von Mitteln in den Bereichen „Sicherheit“ (nicht menschliche Sicherheit!) und Hilfestellungen für die Wirtschaft gezwungen, ihre Aktivitäten weitgehend einzustellen, um die Geschäfte (und den Neoliberalismus) am Laufen zu halten? 

Was ist mit den Flüchtlingen und Binnenvertriebenen zwischen den Luftangriffen, dem Hunger, den geschlossenen Grenzen, dem „verschwundenen“ Völkerrecht – zwischen ihnen so viele Frauen und Kinder? Lasst uns Frauenorganisationen und mutige Laien, soziale Dienstleister wie Women Refugee Route adoptieren und unterstützen!

Ein Blick nach vorn:

Um mit den Einschränkungen und den aufgezwungenen Veränderungen unseres Alltags und unserer Gewohnheiten zurechtzukommen, sind Angst, Aggression, eine eingeschränkte Innensicht auf individuelle Verluste zwar verständlich, aber kein Rezept, um transformative Dynamiken für die Zukunft zu entwickeln. Dies wird schwerwiegende und langfristige Folgen für die Art und Weise haben, wie wir uns politisch engagieren, für das demokratische Zusammenleben, für die Wahrung des Völkerrechts und die Universalität der Frauenrechte als Menschenrechte zu unserer aller Schutz und Wohlergehen. 

Wir schauen genauer hin und entwickeln neue Formen von Solidarität zu denjenigen, die am stärksten von der Krise betroffen sind, mit Flüchtlingen und Binnenvertriebenen, mit inhaftierten Menschen, mit Frauen in Konfliktgebieten und mit Frauen, die Armut, Gewalt und Hunger ausgesetzt sind. 

Wir fordern unsere Politiker*innen auf, niemanden zurückzulassen, die Bedeutung von Fürsorge und sozialer Sicherheit neu zu überdenken, angemessene Antworten auf grenzüberschreitende Dialoge zu finden und kontinuierlich Friedensinitiativen im komplexen Sinne der menschlichen Sicherheit zu unterstützen.

Wir engagieren uns für den Erhalt demokratischer Rechte, die Gewährleistung von Asylrecht. Wie es auch der UN-HR-Berichterstatter formuliert, fordern wir unsere politischen Vertreter*innen auf, bei der Regulierung dieser Pandemie immer einen menschenrechtsbasierten Ansatz beizubehalten, um die Entstehung gesunder Gesellschaften mit Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechtsschutz zu erleichtern.

Die aktuellen Krise beweist, dass die von uns seit Jahren kritisierten Sparmaßnahmen für den kapitalistischen Profit, mit denen in der Vergangenheit Sozial- und Gesundheitsdienste gekürzt und privatisiert wurden, nun insgesamt eine Unterausstattung der Krankenhäuser und Dienstleistungen zeigen, die nicht so schnell kompensiert werden können, wie sie es sollten. Investitionen, um die Geschäftswelt am Leben zu erhalten, müssen sich an den Vorgaben einer nachhaltigen Entwicklung, an einem echten grünen New Deal. Hier sind die Verbindungen zu Extinction Rebellion, Fridays for Future, Klimafrauen uvm. 

Überall auf der Welt wird die Unabhängigkeit der Frauen ein stilles Opfer der Pandemie sein. Zu lange sind Politiker*innen davon ausgegangen, dass Kinderbetreuung und Altenpflege von Privatpersonen „aufgesogen“ werden können – meist von Frauen, die der bezahlten Wirtschaft eine enorme Subventionierung bieten. Diese Pandemie sollte uns an das wahre Ausmaß dieser Verzerrung erinnern. Stress, Alkoholkonsum und finanzielle Schwierigkeiten gelten als Auslöser für häusliche Gewalt und die Quarantänemaßnahmen, die weltweit verhängt werden, werden alle drei Faktoren verstärken. Die britische Wohltätigkeitsorganisation Women’s Aid sagte in einer Erklärung, dass sie „besorgt darüber ist, dass soziale Distanzierung und Selbstisolierung als Mittel zur Nötigung und Kontrolle des Verhaltens der Täter eingesetzt werden und die Wege zu Sicherheit und Unterstützung versperren“.

Wir setzen uns nachdrücklich für eine gleichberechtigte Beteiligung von Frauen auf allen Ebenen der Entscheidungsfindung ein – nur so können friedliche und nachhaltige Gesellschaften aufgebaut werden. Wir erheben unsere Stimme: Frieden ist und wird das Hauptziel sein, und der Militarismus tötet unsere Volkswirtschaften endgültig – also setzen Sie das Geld jetzt für Gesundheit, Bildung, Friedensinitiativen und Klimagerechtigkeit ein. Die Geber*innen sollten langfristig in Friedensinitiativen investieren, die von Frauen und Frauenorganisationen nachdrücklich unterstützt und durchgeführt werden.

Es liegt an uns allen, zu definieren, wie unsere Zukunft aussehen soll und dafür eine Stimme zu gewinnen!

Anregungen zum Weiterdenken: 

Die Zeiten der Pandemie haben uns gezeigt, wie vernetzt und zerbrechlich unsere Gesellschaften sind, und die unmittelbaren und ungleichen Auswirkungen einer globalen Gesundheitskrise auf die Wirtschaft, die Umwelt und die Menschen. Es ist eine gute Gelegenheit, über unseren überwältigenden Lebens- und Arbeitsstandard und über unsere wirklichen Bedürfnisse nachzudenken: eine sichere und gesunde Umwelt und ein sicheres Zuhause, gutes Essen, ein solides, zugängliches und erschwingliches Gesundheitssystem, das von der Pflegearbeit vieler anderer abhängig ist. In dieser Ausgabe werden wir einige Erkenntnisse darüber vermitteln, wie wir in diesen Zeiten mit denen solidarisch umgehen und handeln können, die weniger Mittel oder keinen Zugang zu Ressourcen und Dienstleistungen haben, um in Krisenzeiten gut zurechtzukommen“ (Gender CC).

Die COVID-19-Pandemie hat die toxischen Auswirkungen eines Systems aufgedeckt, das viel zu lange jeden Aspekt unserer Gesellschaften beherrscht hat. Der Neoliberalismus als Wirtschaftsideologie des Kapitalismus hat unsere öffentlichen Dienstleistungen ausgebeutet, unser Bildungs- und Gesundheitswesen in gewinnorientierte Unternehmen verwandelt, Gewinne auf Kosten unterbewerteter und unterbezahlter Arbeitnehmer gehortet, die Rentabilität einer militarisierten Welt gegenüber der Sicherheit und dem Wohlergehen der Menschen begünstigt und die Ungleichheiten zwischen Menschen und Ländern verschärft“ (Nela Porobic/Frauen für eine Veränderung in Bosnien und für das FEP).

„Mitgefühl, Fürsorge und kollektives Handeln werden uns durch diese Krise führen und das Fundament bilden, auf dem wir eine Welt jenseits von kapitalistischer Ausbeutung, militarisierter Sicherheit und Umweltzerstörung bauen. Es ist an der Zeit, sich diese Welt jetzt vorzustellen und zu strukturieren“ (Ray Atchinson/RCW).

von Heidi Meinzolt