15. April 2013

Weltsozialforum in Tunis vom 26. bis 30.3.2013

Bericht von Heidi Meinzolt, WILPF Europa Koordinatorin

Das Weltsozialforum www.fsm2013.org , unter dem alles überstrahlenden Motto „Dignity – Würde“ ist eine Riesenküche für eine Welt in Veränderung. In einer weitgehend friedlichen, freundlichen, offenen Atmosphäre stellten Köche aus aller Welt ihre Rezepte vor, die ganze Bandbreite ihrer Gewürze und Zutaten und öffneten Räume.

Dieses erste WSF in einem arabischen Land war ein würdiger Treffpunkt für kreative Ideen, revolutionäre Traditionen und Netzwerkarbeit existierender (lokaler, regionaler) Gruppen und (globaler) Bündnisse. Viele waren auf der Suche nach neuen Partnern für Gedankenaustausch, Kampagnen, Information auf der Suche nach Lösungen, Verstärkung und Solidarität – mit den Verwundbarsten, Ausgeschlossenen, Unterdrückten. Alte Globetrotter, Polittouristen, aufgeschlossene junge Leute teilten ihren Enthusiasmus mit „Experten“ and überwanden so mühelos alle organisatorischen Probleme.

Einige Plenardebatten füllten große Säle, Hunderte von weitgehend selbst organisierten Diskussionsgruppen trafen sich in kleinen und größeren Unterrichtsräumen auf dem weiträumigen Universitätscampus vor den Toren Tunis. Wem dies nicht genug war, organisierte sich in Sitzgruppen in frühlingshaften Gärten, in Zelten, demonstrierte (oft spontan) seine Überzeugungen und leisen und lautstarken Proteste – gegen Ungerechtigkeiten, Unterdrückung, Besatzung, Krieg, die Ermordung des tunesischen Oppositionspolitikers, gegen politische Gefangene, militärisch abgeriegelte Flüchtlingscamps in der Sahara und den Tod von tausenden Flüchtlingen im Mittelmeer, denen die Festung Europa und ihre „Grenzschutzagentur“ Frontex den Weg versperrt hatte.

Unzählige Freiwillige halfen bei allen logistischen Problemen. Musik, Tanz, Ausstellungen, Essensstände waren Kommunikationsorte – insgesamt wirklich inspirierend, bereichernd und bestärkend, dass die Alternativen gedacht und gemacht werden – Eine andere Welt ist möglich!!

Beeindruckend war die Sichtbarkeit und Präsenz der Tunesier, der Menschen aus Nahost und der gesamten arabischen Welt. Sicherlich bildeten sie mehr als 1/3 der 30000-50000 Forumsteilnehmer. Der Fokus auf dem „Arabischen Frühling“ brachten den Geist eines neuen Anfangs, einer Hoffnung auf Öffnung durch internationale Kontakte und Austausch. Gleichzeitig waren jedoch Frustration und Ungeduld bezüglich der Stagnation der revolutionären Dynamik für eine demokratische Zukunft und Arbeitsplätze zu spüren. Die große berechtigte Angst gerade auch vieler Frauen, die in der Revolution aktiv mitstritten, ist, nun wieder an den Rand gedrängt zu werden, der gewonnen geglaubten Rechte und Freiheiten beraubt zu werden und so Gleichberechtigung und Autonomie zu verlieren, bevor sie sie richtig gewonnen haben. Die Angst geht weit über die Debatte: verschleiert oder nicht hinaus, aber der laizistische Grundgeist ist präsent auf jeden Fall gegenüber der Totalverschleierung, die breit und vielstimmig abgelehnt wird. Die vielen anwesenden Frauen/Frauenbewegungen nutzten  die große Medienaufmerksamkeit (insbesondere arabischer Medien) , um der Welt zu sagen, was sie brauchen, fordern und dass sie mit aller Macht Widerstand leisten werden gegen ein Rollback.

Das Programm bot hunderte von Workshops, Foren und Seminaren, die alle irgendwie für WILPF relevant sind – daher war die Auswahl echt schwer:

  • Wirtschaft neu denken, Wirtschaftskrise + nachhaltige Entwicklung, Antikapitalismus, Schuldenpolitik, Mobilisierung gegen Großkonzerne und Globalplayer, Anti-Wachstum, Agenda jenseits der Millenium-Entwicklungsziele
  • Demokartieaufbau – mit speziellem Fokus auf konstitutionelle Prozesse in der MENA-Region, Zivilgesellschaft und soziale Gerechtigkeit
  • Frauen und die Austeritätspolitik, gegen Kapitalismus und Patriarchat, Frauenrechte, Frauen in der arabischen Welt
  • Recht auf Nahrung, Landgrabbing, Handelsverträge, ländliche Entwicklung, „gutes Leben“
  • Anti-Kriegspolitik, Abrüstung, Drohnen, Anti-NATO, zivile Konfliktlösung
  • Migration und Flucht, politische Gefangene, Frontex
  • Klima
  • Laizismus

Was fehlte: Nirgends wurde die Res.1325 erwähnt, keine Bezüge zu den Vereinten Nationen in Bezug z.B. zu Menschlicher Sicherheit, Menschenrechten. Uns fehlte Konfliktprävention und Konfliktnachsorge sowie die Verbindung zwischen wirtschaftlicher/ sozialer Gerechtigkeit und Krieg ( „du zahlst was du kriegst“). Wir fanden keine Verbindung zu dem WILPF-MENA-Projekt und konnten trotz intensiver Suche keine Vertreterin davon ausfindig machen.

Empfehlung: Wir, das waren 5 Ligafrauen (Annalisa Milani/Italien, Ingela Martensson/Schweden, Robin Lloydt/US, Marlène Tuininga/Frankreich, Marta Benavides/ex-WILPF-El Salvador, Heidi Meinzolt), die sich mehr zufällig in Tunis auf individuelle Veranlassung hin trafen– während z.B. die Frauen vom “ World March of Women“ in vielen Debatten und auf der Eingangsdemo sehr präsent waren  und viele junge Frauen in ihren Bann zogen. Eine deutliche gut koordinierte WILPF-Stimme hätte da gut getan! In einem spontan organisierten Treffen beschlossen wir deshalb, WILPFer individuell, sektionsweit, aus den verschiedenen Weltregionen, vom Vorstand und dem Büro aufzufordern, zukünftig aktiv an dieser Art von Veranstaltung teilzunehmen und auf der Grundlage unserer „Power gegen den Krieg“ strategisch und persönlich in die Weltsozialforumsbewegung sich einzuklinken. Das nächste WSF ist wohl wieder 2015 in Porto Allegre/Brasilien – aber da sind ja auch die regionalen Foren (wie kürzlich das ESF in Florenz).

Einige persönliche Eindrücke aus meiner Auswahl:

Die Frauenversammlung war eine eindrucksvolle Manifestation von internationaler Frauensolidarität. Sie fand bereits am Tag vor der offiziellen Eröffnung statt. Ihr folgten zahlreiche Diskussionen in Grassroot-Workshops und Expertinnenseminaren, wo Schwierigkeiten beklagt und Lösungen, bzw. Solidarität gesucht wurden. Frauen und Frauengruppen insgesamt waren durch ihre Farbenfreudigkeit und Lust an den Debatten sehr sichtbar und präsent – auch und gerade in der Eröffnungsdemo durch Tunis.

Die tunesischen Frauen hatten eine großartige Eröffnungsshow vorbereitet mit  Schwerpunkten auf der Situation in Tunesien (bzw. Ägypten und dem Maghreb) und in Palästina. Während sie an einem Strang zogen während der Revolution, tun sie sich nun schwer, einige der neuen Rechte und Freiheiten in die Zukunft zu retten. Aber sie spüren die (eigene)Frustration steigen, alles dauert, bzw. läuft rückwärts, die Feminisierung der Armut ist ein deutliches Signal in der wirtschaftlichen Krise, gewalttätige Übergriffe gegen Frauen nehmen zu. Die arabischen Frauen fordern Gleichberechtigung im Alltag (wozu es die patriarchale Mentalität zu ändern gilt!), den Zugang zu universellen Menschenrechten, die sie vor allem auch in einem Verfassungsprozess und in einer zukünftigen Verfassung verankert sehen wollen. Prominente Rednerinnen waren z.B. Ahlem Belhaj, die Präsidentin der demokratischen Frauen Tunesiens; sie lancierte einen eindringlichen Appell an internationale Solidarität zur Unterstützung der Errungenschaften des „arabischen Frühlings“ für die Frauen aber auch im Kampf gegen Strukturprogramme des Weltwährungsfonds und der Weltbank zu einer weiteren Enteignung der Frauen beitragen.

Alle Frauen kreisten um dasselbe Thema mit unterschiedlichen Schwerpunkten: die Palästinenserin in einem Aufruf insbesondere auch an die arabische Solidarität zur Beendigung der Besatzungspolitik Israels, die Senegalesin über die Diskriminierung von Frauen im Alltag aber auch in den Institutionen, über mangelnden Zugang zu Ressourcen und geringe Partizipation. Frauen aus Syrien, Algerien, Ägypten, Polen, Brasilien, Spanien komplettierten den kollektiven Aufschrei, gaben gleichzeitig ein eindrucksvolles Bild ihrer Kraft, ihres Humors, ihrer gerechten Hoffnungen und aktiven Bürgerbeteiligung.

2. Wirtschaft und soziale Gerechtigkeit – Frauen und Schulden – ein Forum, das von der „Altersummit“-Bewegung  www.altersummit.eu initiiert wurde. Das Manifest und der Aufruf im Internet sind sehr gut! Der Fokus lag auf den europäischen PIGS: Portugal, Italien, Griechenland und Spanien) – siehe auch meinen Bericht von Florenz –  im Vergleich mit Ländern im Süden, die schon wesentlich länger mit den dramatischen Folgen der Austeritätspolitik zu kämpfen haben, die der gleich Logik unterliegen und dem selben Götzen des Kapitals dienen. Altersummit ruft zu einem Treffen in Athen am 7./8.Juni auf.

3. Jenseits des Wachstums – ein Forum, das schwerpunktmäßig von Italien und Frankreich gestaltet wurde im Nachklang zum internationalen Anti-Wachstumsgipfel in Venedig im letzten Herbst www.venezia2012.it. Der nächste internationale Treffpunkt ist im Sommer 2014 in Leipzig – mitorganisiert von der Heinrich-Böll-Stiftung. Es geht um einen Paradigmenwechsel hin zu einer Wirtschaft ohne Wachstumsdiktat für eine Welt in der Waren weniger zählen als menschliche Beziehungen. Anti-Wachstum ist ein ganzheitliches Konzept, das von der Endlichkeit der zur Verfügung stehenden Ressourcen ausgeht. Startpunkt ist ein verändertes Verbraucher-Bewußtsein und -Verhalten. Die Garantie von Grundbedürfnissen durch die öffentliche Hand im Sinne einer Gemeinwohlökonomie ist entscheidend hin zu einer Veränderung von Produktionsstrukturen und Handel im Sinne der Nachhaltigkeit. Es schmälert die Macht der multinationalen Unternehmen, ist auf Dezentralität und Eigeninitiative aufgebaut. Natürlich müssen die Ideen in ganz anderer Weise noch in die Wirtschaftsforschung an Lehrstühlen und in politische Think Tanks eingefüttert werden, um systemverändernde Dynamiken auch direkt zu entwicklen.

4. Die Milleniumskampagne

Sie läuft 2015 aus und der prognostizierten Abbau von Armut, Defiziten in der Gesundheitsversorgung, Beschulung – siehe die 8 Ziele – wird absehbar nicht erreicht werden, vielmehr droht in einigen Bereichen eine Verschlechterung. Z.Z. sind 50 UN-Mitgliedsstaaten aufgerufen zu einem Evaluationsprozess. Diese Kampagne kann von der Zivilgesellschaft genutzt werden, Aufmerksamkeit auf die Defizite und Verursacher der Probleme zu lenken und Vorschläge für eine Post-2015-Agenda entwickeln. Marta Benavides, die Vorsitzende von GCAP stellte eine mögliche zentrale Öffentlichkeitskampagne aus ihrem Land El Salvador in überzeugender Weise dar. Infos unter www.worldwewant2015.org or www.whiteband.org

5. FriedensbewegungHelsinki Citizen assembly – Sarajevo 2014

Klein war das Grüppchen der Friedensbewegten, die beklagten, dass das Sozialforum traditionelle Friedenspolitik nicht ernst genug genommen habe im Sinne einer Kultur des Friedens und der Gewaltfreiheit. Ich hielt dagegen, dass Frieden in einem ganzheitlichen Sinne sehr wohl präsent war. Ein Vorschlag der Gruppe, an der auch Ialana z.B. maßgeblich beteiligt ist, ist jedoch erwähnenswert:  ein explizites Friedens-(Welt-Sozial-) Forum in Sarajevo vom 6.-9.Juni 2014 zu organisieren. Es handelt sich dabei um ein symbolträchtiges Datum, den hundertsten Jahrestags des Beginns des 1. Weltkrieges und schlägt einen Bogen zu den Kriegen der 90er Jahre im Balkan. Kontakte u.a. über Reiner Braun,  hr.braun@gmx.net, www.1914-2014.eu.

Sollte es eine bosnische Sektion der Liga geben, wäre dies vielleicht ein willkommener Anlass zur Beteiligung, auch auf Grund unserer historischen Arbeit – auch wenn wir wissen, dass Friedensarbeit in Langfristigkeit und Brückenbau eher  besteht als in einem einmaligen internationalen Event.

Der Bericht ist auf English hier zu finden: https://www.wilpfinternational.org/postcard-from-the-world-social-forum-in-tunis/