WILPF-Treffen in Budapest und Wien

Am Züricher WILPF-Kongress 1919 hatten auch zwei wohlbekannte ungarische Sufragetten, nämlich Rózsa Bédy-Schwimmer und Vilma Glücklich teilgenommen. Andrea Marikowski hatte uns eingeladen, dies und die Gründung einer WILPF-Gruppe 2019 mit ihr zu feiern:
„Wie die Feministinnen in Rojava, glauben wir an eine freie, gerechte Gesellschaft, in der die Prinzipien der Geschwisterlichkeit herrschen. Wir arbeiten ohne Unterlass an einer radikalen Wiederbelebung Europas und an der endgültigen Überwindung der gegenwärtigen ökologischen und sozialen Krise. Durch die politische Emanzipation der Frauen wollen wir der Gesellschaft eine neue Basis geben in der Grasswurzel – Demokratie sowie die Idee einer ökologisch-gerechten Wirtschaft und Gesellschaft lebendig sind und die Macht haben, die Gesellschaft zu formen. Wir wollen die Separierung und den Wettkampf ersetzen durch eine ermutigende Solidarität und Zusammenarbeit unter Frauen um die patriarchale Dominanz loszuwerden. Eine Station dieser Arbeit wird das erste internationale WILPF-Meeting in Budapest sein, wo wir über die feministische Vergangenheit und Zukunft diskutieren wollen.”
Andrea verwöhnte uns mit einem liebevollen Rahmenprogramm: Ihre Frauenführung begann in einem alten Jugendstilhaus in der einzigen feministischen Bibliothek Ungarns, die ohne jegliche staatliche Unterstützung von Antonia Burrow aufgebaut wurde. Vor kurzem wurde der Studiengang „Genderstudies” aufgelöst, so dass sie auch von der Universität nichts mehr zu erwarten hat. Die Sicherung der Bücher bereiten ihr große Sorgen. Die ungarischen Frauen berichteten über die schwierige Vergangenheit des ungarischen Feminismus, Antonia brachte die hohe Arbeitslosenrate in Zusammenhang mit dem Abtreibungsverbot: „Let send them home and make them pregnant.”
Die Galeristin Anna Deli, die sich immer auf ein Werk konzentriert, führte uns durch ein Türguckloch den feministischen Zeichentrickfilm von Eszter Szabó vor. Im Manier Szalon bewunderten wir die Unikate von Anikó Németh. Die Schneiderin verwendet recycelte Stoffe, Naturmaterialien und traditionelle Methoden. Sie schafft fantasievolle bis fantastische Kleider für den Alltag oder auch die Opernbühne. Im Laufschritt eilten wir zum Kino, um die Premiere des Films: „Die Pfarrerin von Mandak Haus” nicht zu verpassen. Die feministische Filmregisseurin Mariá Takács zeichnet in ihrem neuen Film ein Portrait der lutherischen Pastorin Márta Bolba, die in einem Armenviertel in Budapest in einem diversen Gemeinschaftsprojekt lebt und Demonstrationen gegen die Gentrifizierung und Wohnungsnot mit organisiert. Am Sonntagmorgen durften wir uns dann im Jugendstil-Thermalbad auf der Margeriten-Insel verwöhnen.
Am Samstag, den 16. 11. kamen ungarische und Frauen aus ganz Europa zusammen, um einen Bogen zu schlagen von der feministischen Vergangenheit zur feministischen Zukunft. Judit Acsády schilderte die Geschichte der ungarischen Suffragetten in ihrem Kampf um die Gleichberechtigung und brachte uns die Biographien der beiden WILPF-Gründerinnen Bédy Schwimmer Rosa und Vilma Glücklich näher. Heidi Meinzolt stellte das EU-Remembrance-Projekt WOMEN VOTE PEACE in Wort und Bild vor.
In verschiedenen Podien präsentierten die ungarischen Teilnehmerinnen und WILPF-Frauen Schwerpunkte ihres Engagements. Patriarchale Strukturen, der Wegfall staatlicher Unterstützung sowie die zunehmende Diskriminierung setzen den Frauen im Gesundheitssystem ebenso zu wie in den Universitäten. Rigide Abtreibungsverbote töten, wie Nina Sankari aus Polen betonte. Von West bis Ost waren sich die Frauen einig, dass die steigende Zustimmung für rechte Parteien mit einem Anstieg von Gewalt gegen Frauen einhergeht. Carmen Magallon von der spanischen Sektion, die gerade erst von Südamerika zurückgekommen war, brachte die Rede auf den Zusammenhang von Terrorismus und Feminiziden. Die Frauen berichteten aber auch aus Europa, z. B. auch wir Deutschen, dass die Täter mit geringen Strafe davonkommen, vor allem bei Massenvergewaltigungen.

Mina Damnjanovic aus Belgrad beklagte, dass die Militaristen des Krieges immer noch in Machtpositionen sind sowie die Diskriminierung von Frauen und LGBT durch Religion und im Schulsystem, z. B. durch die fundamentalistische Rollendarstellung der Schulbücher. Die im Krieg vergewaltigten und traumatisierten Frauen werden juristisch nicht anerkannt und bekommen weder eine Entschädigung noch irgendeine Unterstützung durch den Staat.
„Solidarität unter Individuen und in der Gesellschaft“ war der Satz, der am meisten fiel, als die Frauen ihre Visionen von der Zukunft formulierten, aber auch nachhaltiger Frieden, Gleichberechtigung der Geschlechter und Menschen verschiedener Herkunft, Rüstung und Patriarchat abschaffen, Frauen in leitende Positionen. Vor allem die jungen Frauen träumten von einer Arbeitswelt, die auf ihren Zyklus Rücksicht nimmt. Mein Vorschlag der Abschaffung von (gemeint waren nationalen!) Grenzen löste eine interessante Diskussion darüber aus, wo einzelne Frauen Grenzen überwinden bzw. haben möchten.
Am Sonntagabend trafen wir uns in Wien mit den Mitgliedern der neuen österreichischen IFFF-Gruppe zum zwanglosen Austausch.
Am nächsten Morgen, 18. 11., bot uns Transform!Europe Raum für die internen Treffen, um das europäische Projekt mit unseren Partner*innen zu evaluieren und abzuschließen und lud mit uns zum Symposion: „Frauen stimmten für den Frieden, was nun?”, welches die Österreich Helsinki Vereinigung – Für Menschenrechte und Internationalen Dialog organisierte. Schon das erste Podium stieg voll in die Gegenwart ein: „Forderungen, Aktivierung und Mobilisierung.”

Carina Maier von der Universität in Wien, die sich mit politischen feministischen Theorien auseinandersetzt, stellte die Frage, wie Frauen sich in der derzeitigen sozialen und ökonomischen Krisensituation in Europa, in der sich zur Erhaltung der Macht die Hierarchien zwischen Männern und Frauen erneut verfestigen, mehr soziale Gerechtigkeit und ein besseres Leben erstreiten können? Sie beschrieb die Hindernisse, die uns entgegentreten: antifeministische Reaktionen in den Parlamenten, durch die Kirche, in der Me-Too-Debatte und in rechten Gruppierungen, ein Push-Back bei den reproduktiven Rechten sowie Gewalt gegen Frauen sowie homophobe und rassistische Diskurse. Sie zeigte die Instrumentalisierung des Feminismus durch die Wirtschaft auf (Lean-In- bzw Popfeminismus) und betonte, dass nur ein antikapitalistischer und antirassistischer Feminismus in Frage käme. Sie schlug einen globalen Frauenstreik vor, antikapitalistisch ausgerichtet, der die Gewalt gegen Frauen ebenso bekämpft wie die wirtschaftlliche Benachteiligung von Frauen sowie die strukturelle Abwertung von Carearbeit und Reproduktion.
Daniela Dieser stellte die österreichische Kampagne für das Frauenvolksbegehren vor. Ab Herbst 2016 arbeiteten die Österreicherinnen an einer Neuauflage eines Frauen*Volksbegehrens. Die Forderungen wurden im Herbst 2017 veröffentlicht und in den sozialen Medien verbreitet. 2018 unterschrieb eine halben Million der Menschen in Österreich. Dennoch machen die Frauen weiter, weil bislang keine einzige der Forderungen vom Parlament umgesetzt oder zumindest beschlossen wurde. „Eine breite Bewegung tritt an, um echte soziale und ökonomische Gleichstellung der Geschlechter mit verfassungsgesetzlichen Regelungen einzufordern. Die Verbesserung der Lebensrealitäten von Frauen muss auf der politischen Tagesordnung ganz oben stehen. Ob Gewaltschutz, sexuelle Selbstbestimmung, soziale Sicherheit, Kinderbetreuung, wirtschaftliche und politische Teilhabe: Der Stillstand der letzten Jahre muss beendet werden. Wir fordern Wahlfreiheit und Chancengleichheit für Frauen und Männer.“
Die Medien- und Lichtkünstlerin Starsky war die dritte auf dem Podium. Guerilla-Tour nannte sie die großflächigen Lichtinstallationen provokanter Texte auf alle Machtplätze in Wien: Ihre Text(-fragmente) ziehen sich über Banken, Versicherungen, Bundeskanzleramt, Präsidentschaftskanzlei, Parlament, Rathaus, ÖVP und FPÖ Zentralen, Magistrate für Frauen und Kunst, Landesgericht, Nationalbank, Burschenschaften bis zum Verfassungsgerichtshof. Sie will Frauen im öffentlichen Raum sichtbar machen und ihnen Handlungsspielräume geben: „In vino veritas. In Vagina a vision. Viva Vulva.“ Sie forderte uns auf: Frauen habt eine Vision, agiert und reagiert nicht auf das Patriarchat. Stoppt euer eigenes hierarchisches Denken. „Zu den Waffeln.“

Die Tische im anschließenden Weltcafe „Die Frauenbewegung neu laden“ boten folgende Themen an: Frauenbeteiligung in demokratischen Prozessen, Kooperation der feministischen Plattform- gibt es das? Politische Mobilisierung, Populistische Narrative und Diskurse gegen Frauen – wie gehen wir damit um, Frauen und die Friedensbewegung, Feminismus neu definieren. Die Fülle der Ergebnisse macht eine Auswahl schwer. Es schälte sich deutlich heraus, dass es nicht genügt, sich der Probleme bewusst zu sein, sondern dass wir alle aktiv an der Umsetzung unserer Visionen arbeiten müssen und die Geschichte der Frauen (Herstory) weiterschreiben müssen. Über das Inhaltliche hinaus wurde den ganzen Tag über ein Netzwerk zwischen den Frauen aus ganz Europa und ihren Organisationen geknüpft und Care als globale Empathie definiert. So fiel die Bekanntgabe der Wiederbelebung einer WILPF-Gruppe in Österreich auf fruchtbaren Boden. Zum krönenden Abschluss des Tages präsentierten wir noch einmal die Filme. Es war meine dritte „Premiere“ – und doch konnte ich neue Aspekte entdecken.


von Irmgard Hofer