Ruth Gleissberg (1912 – 2011)

Mit 99 Jahren ist Ruth Gleissberg in der Nacht zum 24. September 2011 gestorben – eine Freundin und Vertraute, eine Begleiterin in allen Lebenslagen, die mit ihrer milden Bestimmtheit den […]

Mit 99 Jahren ist Ruth Gleissberg in der Nacht zum 24. September 2011 gestorben – eine Freundin und Vertraute, eine Begleiterin in allen Lebenslagen, die mit ihrer milden Bestimmtheit den rechten Weg gewiesen hat, eine Friedensaktivistin fast bis zur letzten Stunde.

Ruth Gleissberg
Ruth Gleissberg

1969 macht Ruth Gleissberg ihre erste Begegnung mit der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF). Als Delegierte der Westdeutschen Frauenfriedensbewegung nimmt sie an der Jahresversammlung der IFFF teil – und ist sofort fasziniert von den Berichten aus der Zusammenarbeit mit verschiedenen Gremien der UNO. Die inhaltlichen Schwerpunkte der IFFF, wie die Diskussionen über chemische Waffen, lassen sie nicht lange zögern – und sie beschließt, ihre politischen Aktivitäten auch in die IFFF einzubringen.

Bald übernimmt sie die Vertretung der deutschen Sektion auf internationalen Treffen der IFFF und kann so internationalen Aufgaben und Verbindungen mehr Gewicht verschaffen. Ihre Englischkenntnisse sind besonders kostbar in dieser Zeit: Mit ihren Übersetzungen macht sie vielen Mitstreiterinnen die internationalen Schriften zugänglich. Sie krönt ihre Arbeit in der IFFF, als sie in den 1970er Jahren für viele Jahre die Geschäftsführung der deutschen Sektion übernimmt.

Doch zurück zu den Anfängen: Ruth, am 4. Mai 1912 in Hannover als ältestes von zwei Kindern der Familie Eichwald geboren, macht ihre ersten politischen Schritte in Berlin, in den Reihen des radikalpazifistischen „Internationalen Sozialistischen Kampfbundes (ISK)“ des Philosophen Leonard Nelson. Berlin ist ihre erste Station nach dem Abitur. Dort wird sie 1930 Mitarbeiterin im Berliner Montessori-Kindergarten, den sie jedoch wie auch alle jüdischen und halbjüdischen Kinder nach der NS-Machtübernahme verlassen muss.

Sie arbeitet fortan als Kinderfrau bei einer jüdischen Familie, mit der sie 1936 auch nach London emigriert. Nachdem sie schon ein Jahr zuvor ihre Arbeit im ISK wieder aufgenommen hatte, schließt sie sich in England den emigrierten und englischen Mitgliedern an. Für ihren Lebensunterhalt sorgt sie zunächst als Hausangestellte – ihren erlernten Beruf als Kindergärtnerin kann sie wie so viele Emigranten hier nicht ausüben. Dann wechselt sie über in das Büro eines jüdischen Emigranten-Komitees im berühmten „Bloomsbury-House“, einem alten Londoner Hotel, und betreut Flüchtlinge aus Deutschland und den okkupierten Ländern. Der Mittelpunkt ihrer Londoner Jahre – sie hat über ihre Heirat die englische Staatsbürgerschaft erlangt – ist die politische Arbeit: in der Londoner Gruppe des ISK, in der Labour Party und in der Gewerkschaft.

1946 kehrt sie nach Hannover zurück und beginnt bei der Arbeiterwohlfahrt mit dem Aufbau der Kindergartenarbeit. Sie wird Mitglied der SPD – und heiratet 1950 Gerhard Gleissberg, Chefredakteur des sozialdemokratischen „Neuer Vorwärts“. Mit dem SPD-Vorstand ziehen die Gleissbergs 1951 nach Bonn, doch bringt die Frage der Bewaffnung der jungen Bundesrepublik Deutschland unüberbrückbare Differenzen und die Distanzierung von der Partei mit sich – und so wechseln die Gleissbergs 1955 nach Hamburg, wo Ruths Mann das sozialistische Wochenmagazin „Die Andere Zeitung“ herausgibt. Mit dem Umzug wird Ruth in der Westdeutschen Frauenfriedensbewegung aktiv und wird 1961 wegen ihrer Mitarbeit in der Deutschen Friedensunion aus der SPD ausgeschlossen.

Die IFFF wird letztlich ihre neue politische Heimat und bleibt es über all die Jahrzehnte hinweg. Ruth Gleissberg folgt ihren Leitmotiven von Solidarität, Gerechtigkeit und unbedingtem Pazifismus – im Politischen, aber auch ganz privat: Wer sie kannte, wusste sich immer gut bei ihr aufgehoben. Sie hat uns gelehrt, nicht aufzugeben – weder im Persönlichen noch in politischen Entwicklungen den Mut zu verlieren und die Hände in den Schoß zu legen. Sie hat uns gezeigt, den Weg erhobenen Hauptes bis ins hundertste Jahr zu gehen.

Anne Ley-Schalles