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Belarus – wie steht es mit dem weiblichen Gesicht der Revolution?

Das Gespräch mit den belarussischen Vertreterinnen war ein wichtiger Schritt, Verständnis und Solidarität zu verstärken, Finger in die Wunde einer wichtigen revolutionären Bewegung zu legen, die in der Zange zwischen Patriarchat, Militarismus und Autoritarismus stecken.

von Heidi Meinzolt

Ein Treffen mit Vertreter:innen der Fem-Gruppe des Koordinationsrates

Die Verbindung staatlicher Gewalt und häuslicher Gewalt ist sofort ein Thema, wenn man sich mit Feministinnen aus Belarus unterhält. In der explosiven Grundstimmung, permanenten Übergriffen auf meist friedliche Demonstrationen durch brutale staatliche Schergen, Demagogie, offene und versteckte Gewalt, bleibt das „weibliche Gesicht der Revolution“ in westlichen Köpfen, wird verbreitet durch internationale Medien und Auftritten von prominenten Protagonistinnen. Frauen – weiß gekleidet mit Blumen in der Hand – das Urbild des weiblichen Pazifismus erzeugt viel Solidarität und Bewunderung – mit Recht. Aber das ist nicht das komplette Bild.

Aus der Innensicht verliert dieses Bild kräftig an Strahlkraft und könnte ein Warnruf für uns sein, genauer hinzuschauen, gerade aus einer Geschlechtersicht. Der Kampf um Gleichberechtigung und Frauenrechte, der ein Teil demokratischen Aufstands ist oder sein müsste, stößt an enge Grenzen einer durch und durch patriarchalen Gesellschaft. Es lohnt also einen Blick hinter die Kulisse!

„Die Männer lassen die Frontfrauen nur in der Öffentlichkeit stehen, weil sie sich nicht für emanzipative Politik einsetzen, sondern in einer eher symbolischen Rolle als Vertreterin ihres Mannes wie z.B. Svetlana Tichanowskaja auftreten. So zeigt sie auch bisher keinen expliziten Willen, selbst Macht zu übernehmen“, sagt uns eine Feministin. Wir sollten uns nicht nur auf diese Frontfrauen konzentrieren, sondern mal anschauen, was die vielen Frauen leisten, wenn sie gerade nicht demonstrieren: die meisten Aktivitäten sind kaum sichtbar, sie sind dezentral, eher „alternativ“ organisiert und sind vorrangig mit der Vermittlung und Organisation von Schutz, Unterbringung, Bereitstellung sozialer Dienstleistungen, Gesundheits- und Grundversorgung zugange. Einige NGOs, die hier hervorragendes leisten – staatliche Versorgung gibt es kaum und/ oder sie wird nicht angenommen, um nicht in die Falle des Regimes zu gehen –  wurden daraufhin massiv bedroht  und viele Vertreterinnen mussten sich vor Verfolgung ins Ausland absetzen.

Ein Ergebnis dieser extrem wichtigen „Hintergrundarbeit“: die kleinen Macht- und Verhandlungsmandate waren schnell von den (männlichen) Machern besetzt. Die meisten Posten im Koordinationsrat haben inzwischen Männern, 1 Frau sitzt noch im Hauptquartier des Koordinationsrates, insgesamt eine Quote von ca. 10%.

Die revolutionäre Agenda ist überhaupt nicht gegendert bzw. geschlechtsspezifisch differenziert und bezieht Frauenrechte nicht mit ein. „Das ist für später versprochen“, meint eine der Vertreterinnen, aber wie soll das gehen, wenn die gesellschaftliche Grundeinstellung sich nicht ändert – das ist eine große Illusion mit möglicherweise bösem Erwachen. Die Agenda beschränkt sich nach wie vor auf die drei Punkte seit August: Schluss mit der Ära Lukaschenko, Neuwahlen, Befreiung der politischen Gefangenen!

Männerstimmen, aber auch einige Frauen stehen auf dem Standpunkt: „Lasst die Frauen auf die Straße gehen, sie riskieren nicht so geschlagen zu werden und ins Gefängnis zu kommen wie die Männer“  – z.Z. sind wohl in der Tat etwa 5x so viel Männer im Gefängnis wie Frauen, aber es gibt keine genderspezifischen Daten für die Auswertung, nur Vermutungen – einige prominente politische Gefangene wie Maria Kolesnikova sind als revolutionäre Ikonen im Gefängnis, aber auch viele Mädchen und Frauen, die keine Stimme haben und nicht gesehen werden. Es wird nicht untersucht oder in Frage gestellt, was mit den Frauen im Gefängnis passiert und was die Folgen für ihre Kinder und Familien sind.

Mit der Zeit verlangen auch immer mehr Männer von ihren Frauen wieder zuhause zu bleiben, schließlich „müssten die Kinder und der Haushalt versorgt werden“ und so wird wieder zunehmend die „Heldenkarte“ gespielt. Die Arbeitsbelastung der Frauen ist nach jüngsten Studien mindestens 3x so hoch wie die der Männer und die Pandemie spielt dazu noch eine besondere Rolle. Nicht zu vernachlässigen ist ein starkes Stadt-Land-Gefälle. Die verletzlichsten Frauen, Alte, ohne Internetzugang, leben abgeschirmt in sehr traditioneller Umgebung. Sie werden überhaupt noch kaum erfasst oder in der Durchsetzung ihrer Rechte und für ihren Schutz unterstützt.

Für Feministinnen, die gendersensitiv an die Gesamtlage herangehen, kann es – laut unserer Gesprächspartnerinnen – nicht darum gehen, einfach raus auf die Straße, den Mund aufmachen, protestieren, sondern auch vorsichtig Verbündete suchen, nicht persönliche Gefahren für Leib und Leben klein zu reden, ohne dass eine Chance besteht, dass sich an der Lage insgesamt etwas verändert. Die Absage an eine patriarchale, militaristische, autoritäre Gesellschaft verlangt, dass Gleichberechtigt ein Thema wird, dass eine erhöhte Sensibilität für geschlechtsspezifische Bedürfnisse und Notwendigkeiten erreicht wird. Nur dann kann ein Regimewechsel auch den gesellschaftlichen Wandel zu mehr Gerechtigkeit erreichen. Dafür müssen dann auch die Schuldigen für alle Formen der Gewalt zur Verantwortung und Rechenschaft gezogen werden und nicht nur eine neue Nomenklatura ins Amt setzen.

Neben der Gewalt auf der Straße, hat häusliche Gewalt dramatische Ausmaße angenommen hat. Sie ist strukturell verbunden mit der aufgeladenen Stimmung und Polarisierung in der Bevölkerung und der Gewaltübergriffe auf der Straße. Trotzdem wird sie kleingeredet – ein allseits bekanntes Muster des „victim blaiming“. Die Verfolgung sexualisierter Gewalt ist ein gravierendes Problem, denn wer traut z.Z. schon Sicherheitsorganen, Polizei und Strafbehörden? Eine explizite Gesetzgebung zum Schutz vor SGBV gibt es auch nicht. Auch der Schutz Minderjähriger vor Gewalt, der zwar offiziell in einem Dekret geregelt ist, wird oft von den Frauen nicht in Anspruch genommen aus Angst, dann als „instabile Familie“ gelabelt zu werden mit dem Risiko, dass die Kinder dann der Fürsorge übergeben oder in ein Waisenhaus gebracht werden.  Ein Verfassungsprozess, der entsprechende internationale Standards umsetzen könnte, ist jedoch momentan nicht möglich und kann erst nach einer angestrebten Neuwahl möglicherweise sinnvoll angegangen werden.

Was braucht es also? Bewusstseinsbildung, internationale feministische Solidarität, Aufmerksamkeit auf die Innensicht von Akteurinnen aus der Zivilgesellschaft und in Verbindung mit europäischer/internationaler Zivilgesellschaft, die tätig ist im Bereich von Frauenrechten/MR, die Zugang hat zu entsprechenden Institutionen wie z.B. gerade im Bereich der OSZE und ihrer adäquaten Institutionen wie dem Zentrum für Konfliktprävention in Wien, ODIHR in Warschau, OSZE Gender Unit mit vielen Kontakten in die Politik auf multilateraler Ebene.

Das Gespräch mit den belarussischen Vertreterinnen war ein wichtiger Schritt, Verständnis und Solidarität zu verstärken, Finger in die Wunde einer wichtigen revolutionären Bewegung zu legen, die in der Zange zwischen Patriarchat, Militarismus und Autoritarismus stecken. Unsere guten Wünsche für die Fem-Gruppe, sowohl Gleichberechtigung als auch den Regimewechsel im Rahmen einer tiefgehenden Transformationspolitik zu erreichen, begleiten die Aktivistinnen. Wir sind dafür verlässliche Partnerinnen.

Zum Original-Artikel (Pressenza)